Call for Papers
Mittelalterentwürfe in moderner Fantasy
Call for Papers für das Themenheft 2026/1 von Das Mittelalter
In seinem Aufsatz Zehn Arten, vom Mittelalter zu träumen schreibt Umberto Eco: „Träumt vom Mittelalter, aber fragt euch immer, von welchem. Und warum.“ Wie fruchtbar Ecos Aufforderung zum Träumen ist, zeigt sich eindrücklich am Beispiel der modernen Fantasy. Seit den Anfängen des Genres stellen Vorstellungen des Mittelalters einen entscheidenden Bestandteil dar und nehmen durch die ungebrochene Popularität der Fantasy prominenten Raum im gesellschaftlichen und kulturellen Diskurs ein.
Gefilmt, gestreamt, gelesen und geschrieben, gezeichnet, gemalt, entworfen und modelliert von Amateuren und Profis, aufgeführt und gespielt in Theatern, (Computer-)Spielen und auf Conventions und vermarktet in der ganzen Welt – Fantasy und ihre mannigfachen Evokationen des Mittelalters reichen in zahllose kulturelle Nischen und lösen breite Begeisterung aus.
Während Ecos Aufforderung zum Träumen ein kreatives Potential anspricht, lässt sich aus der Frage nach Erscheinungsformen und Affordanzen des Mittelalters ein Arbeitsauftrag für die Forschung ableiten, der als Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Rezeptionssträngen, ihren Resonanzen und Verknüpfungen in der Fantasy dienen kann. Mit dem geplanten Heft möchten wir verschiedene Erscheinungsformen dieses ‚Multiversums‘ an Mittelalter-Imaginationen und ihre gesellschaftliche Wirkmächtigkeit herausarbeiten.
Drei Fragenkomplexe sollen dabei leitend sein:
- Worauf gründet sich die anhaltende Faszination für die mittelalterlichen Welten, die Fantasy entwirft?
In der Fantasy stehen nicht nur einzelne Erzählkerne oder spezifische Motive im Mittelpunkt der Wiederaufnahme. Vormoderne Denkmuster, Mythologien, Rituale, Objekte wie Münzen, Schilde, Waffen, architektonische Entwürfe, heraldische Darstellungen, künstlerische und musikalische Interpretationen und noch viele weitere Bereiche prägen die Erscheinungsform der Fantasy. Sie sind Gegenstand ganz unterschiedlicher Aneignungen, die auch unmittelbar lebensweltlich relevant werden können. Reenactments wie Mittelaltermärkte, Cosplay und Ritterturniere, aber auch Computerspiele, Filme, Literatur, Formen der experimentellen Archäologie und Kunstwerke entwerfen wirkmächtige Vorstellungen des Mittelalters, die die Frage virulent werden lassen, worauf sich diese Faszination gründet, und auch der Diskussion darüber, wie unsere Wahrnehmung der Vergangenheit dadurch konstruiert und beeinflusst wird, viel Anschauungsmaterial bieten. - Wie wirkt die Fantasy auf Vorstellung von Geschichte und in welchem Verhältnis steht sie zu kulturellen Entwicklungen und politische Einstellungen?
Für das ohnehin fragile Konzept historischer Wahrheit stellt es neue Chancen, aber auch Herausforderungen u. a. für den didaktisch-pädagogischen Auftrag von Schulen und Universitäten dar, wenn in einer gemeinhin als mittelalterlich verstandenen Welt alternative Geschichtsentwürfe postuliert, Sprachen erfunden und eigene Theogonien konzipiert und wiederum vielfach rezipiert werden. Die Welten der Fantasy greifen aber nicht nur auf Vergangenes zurück und entwerfen dabei das Mittelalter als eine Art heroic age; sie reagieren zugleich auf Krisen der Gegenwart, beziehen also globale Pandemien, Kriege, Hungersnöte, Wasserknappheit, die Klimakrise, aber auch vielfältige Diskriminierungsstrukturen als Erfahrungsraum der Moderne in ihr world building ein. In der selektiven Aneignung (bisweilen vermeintlich) mittelalterlicher Phänomene und den daraus abgeleiteten Narrativen berühren sich Populärkultur und gesellschaftliche Strukturen immer wieder auch in hochproblematischer Weise: Mytheme wie die heroischen Kämpfe ‚großer Männer‘ oder ausgewählter ‚Völker‘ finden über die so postulierte soziokulturelle, identitätsmäßige Homogenität gerade in rechtsnationalen bis rechtsextremen Kreisen erhebliche Verbreitung. Mit den Auswirkungen auf unsere Gesellschaft, aber auch auf die Erzählmodi der Fantasy selbst muss sich die Forschung zur Mittelalterrezeption notwendig auseinandersetzen. - Auf welche Weise können die mediävistischen Fächer ihren wissenschaftlichen Beitrag zu diesem popkulturellen Phänomen leisten?
Für die interdisziplinäre Diskussion schlagen wir vor, Erzählmuster zu analysieren, motiv- und stoffgeschichtliche Untersuchungen anzustellen und spezifische ästhetische Verfahren, kulturphilosophische Entwicklungen und (kommerzielle) Strategien, die zur Popularisierung des Genres beitragen, sichtbar zu machen. Theoretische Ansätze wie die Possible Worlds Theory oder Konzepte der Alterität können dabei ebenso diskutiert werden wie Wissens- und Kulturtransfers oder (postmoderne) Theorien der Fiktionalität. Für das Heft sprechen wir deshalb ein breites disziplinäres Spektrum an. Wir freuen uns über Beiträge aus den unterschiedlichen Philologien, der Kunstgeschichte sowie den Musik-, Geschichts-, Religions-, Kultur- und Medienwissenschaften, der Archäologie oder der Numismatik. Mit den verschiedenen disziplinären Kompetenzen soll ein gemeinsamer Ansatz zur Verortung der vielfältigen Ausprägungen der Fantasy erarbeitet werden.
Mögliche Themenvorschläge und Fragestellungen
- Theorie und Terminologie der Mittelalterrezeption: Neomedievalismus, Medievalismus, …
- Genres der Mittelalterrezeption: Grenzen und Abgrenzungen von (heroic) Fantasy, Dark Fantasy, Horror, Science-Fiction, Vampire-Novels, Satire etc.
- Wiederaufnahmen mittelalterlicher Erzählstoffe in Literaturen, Filmen und Serien: Edda, Artussagen, Nibelungenlegende usw.
- Postmoderne Adaptionen spezifisch altnordischer Stoffe und Mythen, beispielsweise aus der Wikingerzeit
- Mediale Konturen: Rezeptionslinien einzelner Stoffe im Vergleich unterschiedlicher Medien; Fantasy-Storytelling und world building in Gesellschaftsspielen oder deren Rezeption in populären Filmen und Serien
- Narrativer Synkretismus: Vermischungen von antiken und mittelalterlichen Mythen, Fabelwesen und Erzähltraditionen
- Spiritualität und Fanatismen oder Überblendungen verschiedener Religionen und Mythen; Wiederaufnahme philosophischer Konzepte in Fantasy
- Fantasy und Historiographie: Geschichtsentwürfe und fantastische Chronologien
- Materialität des Mittelalters in Fantasy: Material- und Objektstudien (beispielsweise aus der Münz- oder Waffenkunde) zu Computerspielen, Filmen, Serien und anderen künstlerischen Darstellungen
- Sound des Mittelalters: Wie klingen vormoderne Orte wie Burgen, Städte und Dörfer im Fantasy-Genre und wie werden sie musikalisch untermalt?
- Die Welt des Mittelalters: fantastische Entwürfe in der Kartographie der Fantasy sowie architektonische Bauten und Stadtentwürfe in Büchern, Filmen, Serien, Computerspielen oder Fantasy-Freizeitparks
- Figuren des Mittelalters: Darstellung von Fabelwesen und die Rezeption von Bestiarien in Fantasymedien, popkulturellen oder auch alltäglichen Gebrauchsgegenständen
- Gender-Diskurse und Fragen der Geschlechtergerechtigkeit
- Ethik, Moral und Politik: Herrschaftsstrukturen, Macht und Krieg in den verschiedensten Fantasymedien
- Strategien der rechtsextremen Vereinnahmung der Weltentwürfe der Fantasy in den verschiedensten Formen: Literatur, Kunst, Musik etc.
Zeitplan
Bitte senden Sie Ihre auf Deutsch verfassten Abstracts (300–500 Wörter) zusammen mit einer kurzen Biographie (150 Wörter) bis zum 15. November 2024 an isabella.manago@uni-graz.at. Bis Mitte Dezember können Sie mit einer Rückmeldung darüber rechnen, ob Ihr Beitrag in das Heft aufgenommen wird. Die ausformulierten Beiträge müssen bis Mitte Juni 2025 zur Begutachtung eingereicht werden. Während eines Heftworkshops im Format einer Autor:innenkonferenz, der voraussichtlich Mitte Oktober 2025 stattfinden wird, werden die Beiträge gemeinsam diskutiert. Anfang November 2025 müssen die Beiträge auf der Grundlage der Gutachten und der Workshopdiskussion überarbeitet sein und abgegeben werden. Ende Februar 2026 erhalten Sie die lektorierten Texte zur letzten Prüfung. Im April 2026 werden die Druckfahnen versendet, im Mai/Juni 2026 erscheint das Heft.
Herausgeber:innen
- Dr. phil. Isabella Managò (Universität Graz)
- Dr. phil. Moritz Kelber (Universität Augsburg)
- Dr. des. Johanna Spangenberg (Hochschule für Musik und Theater München)