Call for Papers

Sexualitäten im Mittelalter

Normen und Devianz, Phantasien und Praktiken

Call for Papers für das Themenheft 2025/2 von Das Mittelalter

Im geplanten Themenheft der Zeitschrift „Das Mittelalter“ wird die Geschichte der Sexualitäten des Mittelalters ergründet. Erforderlich dafür sind die Aktivierung von Wissensbeständen und Methoden aus der Geschichte, der Philosophie, der Medizin, der Biologie, der Theologie, den Sprach-, Literatur-, Kunst- und Kulturwissenschaften. Ebenso spielen Rechts-, Sozial-, Wirtschaftsgeschichte, Archäologie und Ethnologie eine bedeutende Rolle. Um die bisher dominierende Perspektive auf (Latein-)Europa zu erweitern, sind Beiträge aus der Byzantinistik, der Islamwissenschaft und der Judaistik willkommen. Die Herausgeberin und Herausgeber begrüßen Vorschläge für Beiträge von Vertreter:innen der genannten Disziplinen, um sich im Rahmen der Arbeit am Themenheft über die Fragen nach Normativität und Devianz von Sexualitäten im Mittelalter auszutauschen.

In den letzten beiden Jahrzehnten wurden zahlreiche Studien aus dem Fächerspektrum der Mediävistik veröffentlicht, die sich sowohl im engeren als auch im weiteren Sinne mit Fragen von Geschlecht und Gender beschäftigen. Forschungen, die explizit die Geschichte der Sexualitäten im Mittelalter zum Gegenstand haben, sind demgegenüber deutlich seltener. Sexualität wird hier in dem weiten Sinne aller Phänomene verstanden, in denen sich die auf das Geschlecht bezogene Existenzweise von Individuen in rationaler, emotionaler und instinktiver Art ausdrückt, stets im Kontext interpersonaler und sozialer Beziehungen und normativer Regulierungen.

Bisher unterliegt der Blick auf ‚die‘ europäisch-mittelalterliche Sexualität selbst zumeist bestimmten normativen Vorstellungen vom ‚Mittelalter‘, die charakterisiert sind durch ein allgemeines Keuschheitsideal, die Theorie der Sündhaftigkeit sexueller Handlungen an sich und die Beschränkung des Geschlechtslebens auf den Zweck der ehelichen Kinderzeugung (an wenigen erlaubten Tagen im Jahr). Dem wird in letzter Zeit immer öfter – wenn auch insgesamt immer noch zu selten – ein konträrer zeitgenössischer Diskurs gegenübergestellt, der vor allem im biologisch-medizinischen Feld geführt wurde. Hier steht das gelingende Sexualleben als Voraussetzung für körperliche und mentale Gesundheit im Vordergrund, in Fortführung antiker Traditionen der Diätetik (res non naturales), aber auch durch Integration von Elementen der arabisch-mittelalterlichen ars erotica. Auch dieser eher naturphilosophisch bzw. medizinisch geprägte Bereich ist genuin höchst normativ ausgerichtet.

Wie kaum ein anderer Bereich wird der sexuelle Aspekt des Menschseins durch soziale Einflussnahmen und Regulierungsversuche bestimmt. Von theologischer, philosophischer, juristischer und medizinischer Seite werden auf unterschiedliche Weise Konzepte von ‚richtiger‘ Sexualität und Devianz konstruiert. Wie sich jedoch die beiden großen Diskursstränge – der sexualitätsnegative und der sexualitätspositive – zueinander verhalten, konnte die bisherige Forschung selten plausibel erklären. Man kam kaum über die Behauptung hinaus, dass es sich um widersprüchliche Tendenzen innerhalb der mittelalterlichen Gesellschaft handele. Auch gelangten durch die bislang vorgelegten Studien zwar exemplarisch gewisse Diversitäten in den Blick, aber die von Grund auf heterogene, schillernde und interkulturelle Basisstruktur von real gelebten, aber auch von phantasierten, fiktiven Sexualitäten innerhalb der ethnisch und weltanschaulich vielfältigen mittelalterlichen sozialen Gruppen wurde bisher nicht umfassend betrachtet.

In dem hier verfolgten Verständnis von Sexualität ist die – v.a. auch im Rahmen rezenter Kontroversen in und um Gender und Queer Studies intensiv thematisierte – Unterscheidung zwischen biologischem, (biologisch) zugeschriebenem und selbst wahrgenommenem bzw. empfundenem Geschlecht inbegriffen und die Natur-/Kultur-Grenze selbst Gegenstand der Untersuchung. Allerdings soll die so verstandene Sexualität im vorliegenden Zusammenhang auf das jeweilige Geschlechtsleben und seine Ausdrucksformen hin eingegrenzt werden. Im Fokus stehen also nicht generell das biologisch verstandene ‚Mann-Sein‘ oder ‚Frau-Sein‘ oder die entsprechende Zuschreibung desselben und die sich daraus ergebenden Folgen und sozialen Rollen, sondern konkreter die Existenz und Stilisierung der jeweiligen Person als sexuelles Wesen mit einer von mehreren möglichen Ausprägungen. Dabei wird auch zu reflektieren sein, welches Körperkonzept (z.B. metaphysisch, performanz- bzw. erlebensorientiert etc.) jeweils die Grundlage der entsprechenden Befunde darstellt, und zwar sowohl aufseiten der Quellen als auch bei der wissenschaftlichen Analyse und Theoriebildung. Es ist davon auszugehen, dass man von „Sexualitäten“ im Plural sprechen muss, um diese heterogenen Phänomene sinnvoll zu beschreiben. Es geht auch – aber bei Weitem nicht nur – um die in der Forschung bereits mehr oder weniger etablierten Themen rund um die Sexualitäten von erwachsenen Männern und Frauen wie z.B. Ehe und Fortpflanzung, Homosexualität, Askese, Zölibat oder Prostitution, Erotik oder Obszönität und die Narrativierung sexueller Handlungen. Ebenso wichtig erscheinen Fragen nach Sexualitäten von außereuropäischen Kulturen, von sexuellen Minderheiten innerhalb Europas und von Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen.

Mögliche Themenvorschläge und Fragestellungen
Wichtige Aspekte, die in dem angedachten Themenheft dringend behandelt werden können, sind etwa:

  • die Frage nach diversen sexuellen Identitäten – real und/oder fiktiv –, die sich in den mittelalterlichen Quellen finden lassen, und deren normative Behandlung und Bewertung
  • die Frage nach dem tatsächlichen Einfluss der sexualitätsnegativen wie -positiven Normen auf die gelebte Sexualität und nach etwaigen gegenläufigen Praktiken oder zeitgenössischen Theoriealternativen (philosophischen oder religiösen, sog. „häretischen“)
  • die Abbildung der Bandbreite anthropologischer Theorien des Mittelalters zur Rolle der Sexualität
  • sexuelle Praktiken – real und/oder fiktiv – und ihr jeweiliger sozialer Kontext
  • Heroisierung und Verachtung von Personen/literarischen Figuren mit biographischen Elementen ausgeprägter sexueller Aktivität oder Erscheinung
  • die Untersuchung der diversen Diskursformen rund um den Komplex des Hermaphroditismus und der sozialen Rollen von Zweigeschlechtlichen
  • Beschneidungspraktiken an männlichen und weiblichen Personen, ihre Legitimierungen und ihre Verbindungen zur Herausbildung von sexuellen Identitäten
  • die Frage nach Formen und Ausmaß der Rezeption der arabisch-persischen ars erotica innerhalb und außerhalb des medizinischen Kontexts
  • Untersuchung der Verbindung von sexueller Definition bzw. Wahrnehmung und Sterilität, letztere sowohl als medizinisches Problem (bei ausbleibender, aber erwünschter Fruchtbarkeit) als auch als intendierte körperpolitische Maßnahme (z.B. Kastration und Eunuchentum)
  • Sexualitäten und genealogisches Denken bei der Konstituierung und Beschrei zialer und politischer Gruppen, Institutionen und Prozesse in mittelalterlichen Quellen
  • Legitimationsstrategien von Herrschaft, die sich ausdrücklich auf zeitgenössische philosophische und medizinische Begründungen der Geschlechterdifferenz (insbesondere Zeugungstheorien, Intellekttheorien) beziehen
  • Semantiken der Sexualitäten – Gender und Sex, Erotik und Obszönität, Recht und Status
  • Narrative von sexuellem Begehren sowie Narrative über Sexualität, sei es in Form von obszönen Beschreibungen des / Benennungen für den Geschlechtsakt als ggf. auch für Geschlechtsorgane

Weitere Themen sind willkommen.
Wir bitten um Abstracts für Beiträge von etwa 300–500 Wörtern auf Deutsch bis zum 15. Mai 2024. Bitte senden Sie ihre Vorschläge an die folgende Mailadresse: sexualitaeten@uni-bonn.de

Herausgebende

  • Dr. Hendrik Hess (Mittelalterliche Geschichte / Universität Bonn)
  • Dr. Christian Kaiser (Medical Humanities / Universitätsklinikum Bonn)
  • Dr. Birgit Zacke (Germanistische Mediävistik / Universität Bonn)

Bitte beachten Sie folgenden Hinweis:
Das Themenhaft erscheint bei Heidelberg University Publishing im Open Access unter der Lizenz CC-BY-SA 4.0

Planungen des weiteren Ablaufs

  • Mitte Juni 2024: Auswahl der Beiträge und Zusage an die Autor:innen
  • Anfang November 2024: Einsendung der formatierten Beiträge in die Begutachtung zum Peer Review
  • voraussichtlich 13./14. März 2025, Bonn: Heftworkshop in Form einer Autor:innenkonferenz
  • 30. April 2025: Abgabe der auf Grundlage der Gutachten und der Workshopdiskussion überarbeiteten Beiträge
  • Ende August 2025: Versand der lektorierten Texte zur letzten Prüfung
  • Oktober 2025: Versand der Druckfahnen an die Autor:innen
  • November/Dezember 2025: Erscheinungstermin online und im Buchhandel