Dein Bild in meinem Auge oder: Die Genese des "chinesischen Traums" - China und Europa im langen 20. Jahrhundert
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Abstract
Wenn Berlioz in der Mitte des 19. Jahrhunderts die chinesische Musik noch für nichts als “Katzenjammer” hielt, so gab es andererseits auch chinesische Zeitgenossen, die sich über den “vielen Krach” in den europäischen Opernhäusern aufregten. Inzwischen sind die Verhältnisse allerdings deutlich asymmetrischer geworden: Nicht mehr länger wird der europäischen Skepsis in Bezug auf die chinesische Musik mit gleicher Münze geantwortet. Chinesische Musiktraditionen sind in China zur Musik “zweiter Klasse” degradiert worden. Viel mehr chinesische als europäische Kinder erlernen ein europäisches Instrument. Entsprechend finden wir heute die größten Violin- und Klaviermanufakturen der Welt in China. Chinesische Musiker studieren an den Musikhochschulen Europas und gewinnen reihenweise internationale Musikwettbewerbe – ein Phänomen, das wiederum von europäischer Seite mit Skepsis gepaart mit einer gewissen Faszination (gepaart mit Häme über den Erfolg der chinesischen “Tigermutter”) beobachtet wird. Wie nun kommt es zu diesem Wandel, der sich auch noch an vielen anderen Beispielen (Konfuzianismus, Maoismus), nicht nur der Musik durchspielen lässt: Warum wird und bleibt Europa für China das große Vorbild bis zur Verleugnung der eigenen kulturellen Wurzeln, auch (und gerade) noch in einer Zeit, in der die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungen in China Europa schon lange überholt haben? Wieso kann also der von Xi Jinping geprägte “chinesische Traum” nur in den Begrifflichkeiten der europäischen Renaissance gedacht werden? Welche Bedeutung hat die europäische Wahrnehmung Chinas für das chinesische Selbstbild? Welche Funktion also nimmt Europa in China ein und welche Asymmetrien entstehen so in der gegenseitigen Wahrnehmung? Diese Fragen nimmt der Beitrag in den Blick, und hinterfragt so kritisch sowohl europäische als auch chinesische Sichten auf den jeweils anderen: “Dein Bild in meinem Auge.”