Erinnerungen an einen, der auszog, das Große zu wagen: Nachruf auf Rudolf Wagner (3. November 1941–25. Oktober 2019)

Axel Michaels

Am 25. Oktober 2019 verstarb Rudolf Wagner, der Mitherausgeber dieses Journals, nach langer, schwerer Krankheit. Das von ihm mitbegründete und in diesem Jahr eröffnete Centrum für Asienwissenschaften und Transkulturelle Studien (CATS) der Universität Heidelberg trauert um einen seiner profiliertesten Vertreter.

Ich kannte Rudolf vor allem aus den Gründerzeiten des Vorgängerprojektes, des Exzellenzclusters „Asia and Europe in a Global Context: Shifting Asymmetries in Cultural Flows“. Die Universität Heidelberg, vornehmlich die Philosophische Fakultät, war 2006 in der ersten Antragsrunde der Exzellenzinitiative mit einem anders ausgerichteten Vorantrag gescheitert. Als dies in einer Sitzung des Faakultätsrats verkündet wurde, waren alle wie in Schockstarre. Wenig später traf ich Rudolf zufällig auf der Hauptstraße in Heidelberg und sagte: „Herr Wagner (damals siezten wir uns noch), es kann doch nicht sein, dass die Universität Heidelberg bei einem Wettbewerb, in dem es um Exzellenz der Wissenschaft geht, nicht mehr mitmacht.“

Rudolf teilte diese Ansicht, und in den nächsten Tagen trafen wir uns zu einem Vorgespräch, er brachte die Historikerin Madeleine Herren-Oesch ins Spiel – und so war eine Kerngruppe geboren, die sich an die Arbeit machte, mit vielen anderen einen zweiten, dann erfolgreichen Antrag zu schreiben, teilweise mit Telefonaten, bei denen Rudolf in Boston, Madeleine in Zürich und ich in Delhi saßen. Das „Cluster“, wie es fortan nur noch hieß, wobei man bis zum Schluss nicht einig war, ob es den männlichen oder sächlichen Artikel verdiente, war geschaffen. Es prägte und belebte fortan die kulturwissenschaftlichen Diskussionen in Heidelberg in einer einmaligen Weise, vor allem aber dadurch, dass die Asienwissenschaften aus ihrer im 19. Jahrhundert geschaffenen Nische heraus und in die Arena der kultur- und sozialwissenschaftlichen Debatten trat.

Hierbei war Rudolf unvergesslich, oft der spiritus rector, der in seiner eigenen Art Gespräche und Diskussionen zuspitzte. Er brachte die später verworfene, aber dennoch einflussreiche und – wie ich meine – für den Erfolg des Clusters letztlich entscheidende Idee der Asymmetrie ein. Denn er war bei aller Liebe für das Schöne und Gute und Köstliche letztlich ein politischer Denker, der in großen Räumen dachte und wusste, dass die vielen wirtschaftlichen Ungleichheiten in Vergangenheit und Gegenwart zu kulturellen und sozialen Bewegungen geführt haben, die uns nach wie vor beschäftigen und vor große Aufgaben stellen.

Jeder, der Rudolf kannte, weiß, wie scharfsinnig er bei diesen intellektuellen Auseinandersetzungen war. Er suchte den Gegner, dem er in schneller Redeweise und in perfektem Englisch Argumente zuwerfen konnte, oft in ironischer oder humorvoller Form. Das ging wie bei Squash, das er bis zuletzt liebte und spielte, zack-zack und „as a matter of fact“ – eine von ihm häufig verwendete Redewendung, die er mehrere Mal in einem Satz unterbringen konnte. Mit seiner Frau Catherine Yeh hatte er eine ebenbürtige Partnerin gefunden, die ihn wie das Cluster beständig stimulierte.

Unvergesslich auch seine bullet points zu bestimmten Themen, die er gerne in der Nacht vor einem Treffen verschickte. Gewiss, er konnte dabei auch manchmal übers Ziel schießen und verletzend sein. Wenn er so über den einen Kollegen oder die andere Kollegin herzog, dachte ich unweigerlich, ob er das wohl auch mit mir machte. Er tat es, aber es ging ihm dabei nicht um die Person, sondern um das intellektuelle Ringen, bis alle ermüdet waren. Und doch war er nicht dogmatisch. Wenn man seinen gewandten Redefluss höflich unterbrach, hörte er ruckartig mitten im Satz auf und hörte mit offenen Ohren und wachen Augen zu. Denn jeden zunächst ernst zu nehmen und respektvoll zu behandeln, war ihm wichtig. Wie oft saß er mit Studierenden oder Doktoranden in der Cafeteria des Karl Jasper Centrums, der Heimat des Clusters, und hörte sich an, was diese zu sagen hatten. Fast immer erhielten sie danach eine E-Mail mit zusätzlichen Kommentaren oder Literaturhinweisen.

Einmal, noch ganz am Anfang unser Zusammenarbeit, schrieb er in einer E-Mail an Madeleine und mich „rules of engangement“ auf, auch hier in einem von ihm favorisierten Dreischritt:

1. Argumente konkret und sachlich belegen;
2. Einigkeit herstellen, was als Argument gelten kann (hierbei ging es ihm darum, dass er allein wissenschaftliche Argumente, nicht aber taktische Überlegungen gelten lassen wollte: „Ich bin mir völlig bewusst, dass menschliche Faktoren eine Rolle bei Erfolg oder Nichterfolg spielen, meine jedoch, dass wir an der Fiktion festhalten müssen, dass dem nicht so sei.“);
3. Procedere des Abschlusses fixieren: „Um die Einheitlichkeit eines solchen Antrags zu gewährleisten, wird man nicht umhinkönnen, nachdem alle ihre Sache getan und ihre Texte abgeliefert haben, jemanden mit diktatorischen Vollmachten auszustatten, um das Ganze zu überarbeiten und zu homogenisieren.“

Es versteht sich, dass er diese diktatorischen Vollmachten beanspruchte (wenn auch nicht bekam).

Trotz aller Kritik blieb Rudolf immer optimistisch. Am Vorabend der Verkündigung des Ergebnisses der Exzellenzinitiative saßen Madeleine, Catherine, Rudolf und ich in seinem Haus in Ziegelhausen und bereiteten mit einem schönen abendlichen Blick auf den Neckar eine Presseerklärung für den nächsten Tag vor. Während ich fest überzeugt war, dass wir nicht erfolgreich sein würden, waren Rudolf und Madeleine zuversichtlich. Am Ende schrieben wir zwei Versionen.

Seine intellektuelle Rigorosität und Unbestechlichkeit setzte Rudolf auch in dem peer-reviewed open-access The Journal of Transcultural Studies um. Es wurde zu seinem Lieblingskind im Cluster, in dem er höchste theoretische und philologische Qualitätsmaßstäbe mit der seinerzeit noch relativen neuen Idee eines Online-Journals verband und alle Beiträge selbst kritisch las. Dabei ging es ihm vor allem darum, Kulturen nicht mehr als abgegrenzte Entitäten zu sehen, sondern sie immer – gewissermaßen als – als porös, beeinflusst und instabil, eben als transkulturell, zu betrachten. Der Erfolg dieses Journals gab ihm recht.

So also war er, der Rudolf, jedenfalls meiner Erinnerung nach. Er hat groß gedacht, Großes gewagt und alle in seinen Bann gezogen. Wir verdanken ihm diese Weitsicht. Wir werden ihn sehr vermissen. Wir werden ihn erinnern und von seiner Größe in zukünftigen Herausforderungen getragen wissen.