Michael Schilling, Sprechen und Erzählen in deutscher und lateinischer Tierdichtung vom 11. bis 17. Jahrhundert. Stuttgart, S. Hirzel 2021. 247 S. 11 s/w-Abb.
07 Jul 2023
Michael Schillings Studie über die Narrativik deutscher und lateinischer ‚Tierdichtung‘ des Mittelalters und der Frühen Neuzeit beruht teilweise auf früheren Publikationen (Verzeichnis, 10), bietet aber darüber hinaus einen systematisch angelegten Überblick der im untersuchten Textkorpus vorzufindenden Erzählstrategien. Ausgehend von Überlegungen zur Rolle der Sprache und zur Bedeutung der Sprechfähigkeit tierlicher Akteure in der ‚Vita Esopi‘ und in einigen Fabeln (Kap. 1), die für die Zielführung des Buches wichtig, aber aus früheren Aufsätzen bekannt sind, blickt Schilling in den vier Hauptkapiteln der Arbeit zunächst auf die Erzählerfiguren (Kap. 2) und die vielfältigen Erzählstrukturen der betrachteten Texte (Kap. 3), ehe er die Mittel des Erzählens (Kap. 4) und schließlich seine Ziele (Kap. 5) in den Blick nimmt.
Das Besondere am Ansatz Schillings liegt nun darin, dass er Kapitel für Kapitel jeweils dieselben tierepischen Texte (‚Ecbasis captivi‘, ‚Ysengrimus‘, ‚Reinhart Fuchs‘, ‚Reynke de vos‘) in Verbund mit jeweils passender, vor allem frühneuzeitlicher ‚Tierdichtung‘ unter den genannten Beobachtungseinstellungen analysiert und so einen komparatistischen gattungs- und epochenübergreifenden Ansatz zu einer dezidiert literaturwissenschaftlichen, narratologisch orientierten Auslotung der Potentiale des tierepischen Erzählens präsentiert, der Beachtung verdient. Das Ziel der Analysen Schillings ist dabei weniger eine erzähltheoretisch konsistente Beschreibung verbindender Gesetzmäßigkeiten des Erzählens von und mit Tierfiguren, als vielmehr die Herausstellung einer extraordinären erzähltechnischen Innovationskraft der ‚Tierdichtung‘, vor allem des Tierepos, die Schilling auch auf eine spezifische Selbstreflexivität des Erzählens von erzählenden Tieren blicken lässt – auf seine ‚metapoetische Qualität‘ (insbes. 187–195).
Gerade weil Schillings Ansatz weiterverfolgt und inhaltlich erweitert werden sollte (zu denken ist etwa an den ‚Roman de Renart‘), wäre abzuwägen, ob einige wichtige Fragestellungen, Konzepte und Problemadressen der in der Einleitung für die Untersuchung ausgeklammerten „Trends der kulturwissenschaftlichen Forschung“ (8) – gemeint sind unter anderem die „cultural animal studies“ (ebd.) – nicht doch berücksichtigt werden müssten. Einerseits ließe sich so der Blick auf die erzähltechnischen Qualitäten der ‚Tierdichtung‘ ganz im Sinne Schillings schärfen, andererseits könnte dann auch ihr noch weitgehend unerkanntes Potential für weiterreichende erzähltheoretische Überlegungen erfasst werden. Versteht man nämlich unter ‚Tierdichtung‘ alle Texte, „in denen Tiere als Akteure auftreten, die ein menschliches Bewusstsein aufweisen und sprechen können“ (9), so wird damit zumindest eine wichtige Beobachtungsebene übersprungen: In Texten, in denen Tiere als Akteure auftreten, wird doch oftmals überhaupt erst verhandelt, was die Zuschreibungen ‚tierlich‘ und ‚menschlich‘ meinen könnten. Hat etwa Reinhart, der Fuchs, wirklich ein menschliches Bewusstsein? Was hat es zu bedeuten, dass in ihrer Sprechfähigkeit anthropomorph anmutende Tierfiguren oft dezidiert auf ihre tierliche Körperlichkeit verwiesen werden? Es greift zu kurz, das auf Komik, Satire oder Ironie zurückzuführen und besonders bei der Analyse tierepischer Narrativik macht es einen Unterschied, wenn diese Fragestellungen berücksichtigt werden, weil man so der Konzeption der Tierfiguren deutlich näherkommt. Möchte man den Fokus mit Schilling dann eher auf die Auslotung der Innovationen einzelner Erzählungen lenken, erreicht man unter Berücksichtigung besagter ‚Trends‘ wohl ein noch akkurateres Verständnis vor allem tierepischer Erzählkunst. Darüber hinaus mag man dann aber auch einige Fragen der gegenwärtigen Erzähltheorie der (Tier)Figur adressieren: Inwieweit sind allegorische Dimensionen des Wissens von Tieren und ihre (teils intentionalen) Handlungen als Figuren in Verbindung zu bringen? Sind vielleicht gerade vormoderne Tierfiguren dazu geeignet, die Annahme einer Zentrierung von Figuren um ein menschliches Bewusstsein grundsätzlich zu hinterfragen? Dass Schilling diese Fragen nicht explizit stellt, nimmt dem Buch nichts von seiner Signifikanz, die es freilich nicht nur durch die Methodik und viele erhellende vergleichende Detailinterpretationen gewinnt, sondern auch durch die Edition, die Übersetzung und den Kommentar der ‚Querela Anseris‘ des Michael Toxites (Anhang 1) und frühneuzeitlicher Floh-Epitaphien (Anhang 2) sowie durch ein anregendes Register.
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Jan Glück