Agonale Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung im italienischen und deutschen Humanismus
17 Sep 2021
DOI: 10.17885/heiup.862
Über die ältere und edlere Herkunft der Wettiner in Sachsen. Georg Spalatins Invektive von 1541 gegen Herzog Heinrich den Jüngeren von Braunschweig
Im Thüringischen Hauptstaatsarchiv in Weimar werden 91 Seiten eines handschriftlichen Dokumentes aus der Feder von Georg Spalatin aufbewahrt, das er selbst auf das Jahr 1541 datiert.1 Der Druck erfolgte noch im selben Jahr in Wittenberg, aber unter einem erweiterten und deutlicher formulierten Titel, der schon für sich als Invektive bezeichnet werden kann:
Chronica und Herkomen der Churfürst und Fürsten des löblichen Haus zu Sachsen, Jegen Herzog Heinrichs zu Braunschweig, welcher sich den Jüngern nennet, herkomen, Daraus ein jeder Leser befinden wird, mit was offentlich ungrund und unwahrheit derselbe von Braunschweig sich elders herkomens gerhuembt, auch Manlicher handelungen und thaten seinen Voreldern und Anherrn in seinem nehern schandschreiben, so er widder den Churfürsten zu Sachsen etc. hat ausgehen lassen, zulegen thut. Zusammengetragen durch Georgium Spalatinum 1541. Gedruckt zu Witemberg durch Georgen Rhaw.2
Spalatin starb 1545 in Altenburg und sein gegen die Fürsten aus Braunschweig gerichtetes Werk über die ältere und seiner Auffassung nach edlere Abstammung der Wettiner wurde unter dem abgeschwächten und weit weniger invektiv wirkenden Titel
Chronica und Herkomen der Churfürsten und Fürsten der Herzogen zu Sachsen Und ernach der Stam und geschlecht der herzogen zu Brunschwig und Lunenburg, Treulich zusammengezogen durch den Ernwirdigen Herrn Georgium Spalatinum Anno 1541. Wittenberg 1553,
aber mit einer scharf formulierten antiwelfischen Einleitung durch Philipp Melanchthon erneut publiziert.3 Fast hundert Jahre später greift Friedrich Hortleder die Abhandlung Spalatins nochmal auf und bringt sie erneut zum Druck.4 Wir haben es also nicht mit einer einmaligen Stellungnahme zum Streit der Wettiner mit den Welfen um die ältere und edlere Abkunft zu tun. Die Schrift Spalatins von 1541 reiht sich vielmehr in eine ganze Folge von vor allem schriftlich ausgetragenen Kontroversen der seit 1423 zu Kurfürsten von Sachsen-Wittenberg aufgestiegenen Markgrafen von Meißen mit den askanischen Lauenburgern und Welfen ein.5 Die agonalen Kontroversen um die Hegemonie der Wettiner in Sachsen fanden mit der Schrift Spalatins von 1541 einen publizistischen Höhepunkt, flachten aber danach nicht ab und führten zu einer Dynamisierung der Gruppenbildung bei den beteiligten Parteien und Anschlusskommunikation in der Öffentlichkeit. Öffentlichkeit ist als allgemein zugänglicher Kommunikationsraum zu verstehen und die Kommunikation diente dem Austausch von Informationen in zeitlich-räumlicher Verortung.6 Gegner und Befürworter der Wettiner reagierten auf den medialen Schlagabtausch.
Mit den folgenden Ausführungen soll die zeitgenössisch mehrfach gedruckte genealogische Abhandlung Spalatins vorgestellt werden als eine Invektive, die sich in der Art der Darstellung von anderen deutschen humanistischen Druckschriften des 16. Jahrhunderts abhebt. Während Schmähungen und Beleidigungen die Regel im Diskurs unter einander nicht wohlgesonnener Humanistengruppen in Latein sind, um ihre hervorgehobene Stellung innerhalb einer Gruppe zu betonen, bedient sich Spalatin einer subtilen Kontextualisierung in deutscher Sprache. Das unterscheidet ihn teils von anderen Gelehrten.7 Humanistische Invektiven im nordalpinen Raum sind bisher wenig von der Forschung in den Fokus genommen worden.8 Mit der gedruckten Chronik Spalatins über die Herkunft der Sachsen, einem Auftragswerk des sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich I., erhält der Diskurs nicht nur unter den Humanisten einen Impuls, sondern bezieht die konfessionell gespaltene Öffentlichkeit ein. Spalatin wurde so mit seiner Invektive über die edlere und ältere Abstammung der Welfen oder der Wettiner in die Auseinandersetzungen innerhalb des Hochadels involviert.9
Georg Spalatin (1484–1545) aus dem fränkischen Spalt bei Nürnberg studierte in Erfurt und erwarb dort 1499 das Bakkalaureat. In dieser dem Humanismus sehr zugeneigten Universität kam er u. a. in Kontakt mit Mutianus Rufus (1470–1526) und Nikolaus Marschalk (nach 1460–1525).10 Er wurde Teil des humanistischen Netzwerkes, welches sich nicht nur auf die thüringische Universität begrenzte, sondern über das kursächsische Wittenberg bis nach Rostock erstreckte.11 Marschalk weckte sehr früh bei Spalatin das Interesse an Historiographie und folgte ihm auch 1502 nach Wittenberg, wo Spalatin sich allerdings verstärkt dem Studium der Jurisprudenz widmete und den akademischen Grad des Magister Artium erwarb. Um 1505 trennten sich ihre Wege und Spalatin ging zurück nach Erfurt, wo ihn Mutianus als väterlicher Freund und Förderer in den dortigen Humanistenkreis aufnahm. Nach der Priesterweihe 1508 verhalf er ihm auch zur Übernahme einer Pfarrei in Hohenkirchen und zuvor zu einer Stelle als Novizenlehrer im Kloster Georgenthal.12 Als Kurfürst Friedrich der Weise (1463–1525) 1508 bei Mutianus nach einem geeigneten Lehrer für seinen Neffen Johann Friedrich I., später der Großmütige genannt, und nachfolgenden Kurfürsten (1503–1554) fragte, empfahl dieser Spalatin.13 Kurfürst Johann der Beständige (1468–1532) regierte gemeinsam mit seinem Bruder Friedrich dem Weisen und nach dessen Ableben 1525 allein, spielt aber für die hier zu untersuchenden Invektiven zur Herkunft der Wettiner keine Rolle.14
Am Hof wirkte Spalatin nicht nur als Prinzenerzieher, Geheimsekretär, Rat, Diplomat und Bibliothekar, sondern wurde überdies mit einer Vielzahl weiterer Aufgaben betraut. Auf Grund seines hervorragenden Humanistenlateins und seines beeindruckenden Umgangs mit der deutschen Sprache im Nürnberger Dialekt und seiner klaren und sauberen Handschrift bot er sich als Vermittler zwischen dem kursächsischen Hof und dem Wittenberger Humanistenkreis an.15 Spalatin zeichnete sich nicht nur durch seine Studien der Theologie und der Rechte aus, sondern vor allem auch durch seine Kenntnisse der Geschichte, die er direkt aus den Quellen schöpfte und die ihn zu einem der produktivsten Schreiber seiner Zeit von Historien machte.16 Eine Zusammenstellung seines historiographischen Œuvres von der Geschichte der Kaiser und der Päpste, zur deutschen und außerdeutschen Geschichte, Zeitgeschichte und sächsischen Geschichte sowie Übersetzungen umfasst 37 Titel.17 Sein Hauptwerk, eine Chronik der Sachsen und Thüringer, konzipiert auf vier Bände, blieb unvollendet.18 Den Auftrag dazu hatte er 1510 von Friedrich dem Weisen erhalten. In den Jahren von 1515–1517 beschrieb er auf mehr als 1.000 Seiten die Geschichte Sachsens und Thüringens, ein Werk, das mit mehr als 1.800 Illustrationen aus der Werkstatt von Lucas Cranach dem Älteren versehen wurde.19 Die repräsentativen und öffentlich in der Schloßkapelle in Wittenberg ausgestellten Bände dienten der Herrschaftslegitimation der Wettiner, was für den weiteren Verlauf der Auseinandersetzungen mit den Welfen und damit für die vorliegende Studie von Belang ist.20 Für seine umfangreiche Materialsammlung im kurfürstlichen Auftrag zur sächsischen Geschichte pflegte er intensiven Kontakt mit Humanisten und Geschichtsschreibern und zu den fürstlichen Höfen im Reich. 1525 übernahm er die Stelle eines Oberpfarrers in Altenburg und schied 1539 aus dem kurfürstlichen Dienst aus. In dieser wettinischen Nebenresidenz hoffte er, mehr Zeit für seine historiographischen Studien zu finden.21 Die Durchsetzung der neuen Lehre brachte ihm allerdings zahlreiche Konflikte mit der Stadtgeistlichkeit wegen seiner Beharrlichkeit der strengen Umsetzung der lutherischen Lehre ein. Seine Korrespondenz mit dem Rat wegen empfundener Zurückhaltung wurde immer scharfzüngiger.22
In der Altenburger Zeit entstand auch die obengenannte polemische Schrift von 1541 über das edlere Herkommen der Wettiner in klarer Abgrenzung gegen die Welfen in Braunschweig. In jenem Jahr führte Kurfürst Johann Friedrich I. vor, während und nach dem Reichstag in Regensburg einen erbitterten Streitschriftenkrieg mit Herzog Heinrich dem Jüngeren von Braunschweig über die Frage, welcher sächsische Herrscher – der Wettiner oder der Welfe eine längere Vorfahrenslinie und demzufolge einen Herrschaftsanspruch auf das Land hätte. Die Ursachen für die Eskalation von 1541 im zeitlichen Umfeld des Regensburger Reichstages liegen im Beschluss des Reichstages 11 Jahre zuvor. Zur Vorgeschichte dieses wettinisch-welfischen Streits gehört die Ablehnung der Confessio Augustana durch Kaiser Karl V. auf dem Reichstag zu Augsburg 1530. Er hatte diese abgelehnt und drohte den protestantischen Reichsständen vor dem Reichskammergericht die Reichsexekution wegen Landfriedensbruch. Daher schlossen im Jahr darauf im thüringischen Schmalkalden unter Führung von Landgraf Philipp I. von Hessen und Kurfürst Johann dem Beständigen von Kursachsen, Herzog Philipp von Braunschweig-Grubenhagen, Herzog Ernst von Braunschweig-Lüneburg, Fürst Wolfgang von Anhalt-Köthen und 11 Reichsstädte ein Schutz- und Trutzbündnis.23 1532 einigten sich der Kaiser und die protestantischen Stände auf den Nürnberger Religionsfrieden, wonach alle Religionsprozesse vor dem Reichskammergericht ausgesetzt werden.24 Im Juni 1538 wurde auf Initiative des Reichsvizekanzlers Mathias Held der Nürnberger Bund gegründet. Neben dem Wittelsbacher Herzog Wilhelm IV. von Bayern und dem albertinischen Wettiner Herzog Georg dem Bärtigen von Sachsen dominierte vor allem der Welfenherzog Heinrich der Jüngere von Braunschweig.25 Bereits ein Jahr später verstarb allerdings der altgläubige Herzog Georg und der Bund verlor damit einen wichtigen Partner in diesem Defensivbündnis.26 Herzog Georgs Bruder, Heinrich der Fromme, übernahm die Regentschaft und führte gegen die testamentarische Verfügung von Georg die Reformation im Herzogtum Sachsen ein, verstarb aber bereits 1541.27 Zudem hatte er die Zahlungen an den Nürnberger Bund verweigert. Zuvor schon hatte ab 1538 der Schmalkaldische Bund eine publizistische Kampagne gegen das Reichskammergericht und seine Legitimität begonnen. Zugleich nahm Philipp von Hessen Stephan Schmidt, einen Sekretär von Herzog Heinrich dem Jüngeren, fest und beschlagnahmte Briefe des Welfen an seine Verbündeten wegen angeblicher Aufrüstung zu einem Kriegszug und publizierte Stellungnahmen, auf die wiederum der Braunschweiger mit gedruckten Antworten provizierend reagierte. Der Wettiner Johann Friedrich war fest eingebunden in diese Auseinandersetzung.
Die ersten Publikationen waren in der Wortwahl noch recht sachlich.28 Doch diese in gedruckter Form veröffentlichten Invektiven wurden in der Diktion immer schärfer und unsachlicher.29 Diejenige Johann Friedrichs von Sachsen und Philipps von Hessen vom September 1539 beginnt harmlos mit den Worten: „Wahrhafftiger vnd grüntlicher bericht auch glaubwirdige abschrifften aller brief entschuldigung und handlung so sich verruckter tage …“ 30 Kurz danach folgte das nächste Schreiben und wird deutlicher in der Wortwahl: „Wider schreiben auff das vnerfindtlich Hertzog Heinrichs zů Braunschweig schreiben So der selbe zů jhrer Chur vnd Fürstlichen gnaden vorvngelimpffung …“ 31 Der Welfe reagierte im folgenden Jahr und bezeichnet die kursierenden Drucke als „falsch Libell“, die „ehrenrürig famoss erdicht vnwarhafftig vnd falsch“ seien, so in seiner gedruckten Stellungnahme.32 1541 folgte von Herzog Heinrich von Braunschweig eine ‚Quadruplicae‘ gegen den Wettiner, in der er ihn als „gottlosen verrüchten verstockten abtrinnigen Kirchenraubers vnd vermaledeiten bosshaftigen Antiochi Nouatiani Seuereni vnd Hurnwirts von Sachssen …“ bezeichnet.33 Der so in seiner Ehre verletzte sächsische Kurfürst reagierte ebenso scharfzüngig und beleidigend und nennt den Kontrahenten einen „verstockten Gottlosen vormalledeiten verfluchten ehrenschenders böstheftigen Barrabas auch hurnsüchtigen holofernes …“.34
Die Art und Weise des öffentlich ausgetragenen Dissenses, die gegenseitigen Vorwürfe der Kriegstreiberei und des Landfriedensbruches führten dazu, dass Kurfürst Johann Friedrich an dem wichtigen Reichstag von 1541 wegen persönlicher Beleidigung nicht teilnahm.35 Trotz Abwesenheit ließ er über seine Gesandten auf dem Reichstag 300 Exemplare seiner Invektive gegen den Welfen verteilen.36 Diese im Auftrag des sächsischen Landesherren in die öffentliche Diskussion der Reichstagsteilnehmer eingebrachten Drucke wurden in seiner Wittenberger Kanzlei ausgefertigt und vor Ort gedruckt.37 Jede einzelne Kanzleischrift stellte eine direkte Antwort auf ein vorher von der anderen Seite publiziertes Dokument dar. Man griff die Argumente auf und widerlegte sie mit scharfen Worten.38 Diese medienwirksame Publizistik erfolgte im allgemein zugänglichen Kommunikationsraum der Reichstagsteilnehmer und ermöglichte so Eskalationsdynamiken.39 Auf eine Invektive reagierte der Invektierte mit einer weiteren Stellungnahme unter Einbeziehung des Publikums, welches direkt angesprochen wurde und die Auseinandersetzung nahm an Schärfe zu.40 Die Verbalinjurien, zunächst argumentum ad hominem, wechselten sehr schnell über zu Argumentationen ad personam.
Dieser beleidigende Diskurs geht im Kern auf ein genealogisches Problem zurück. Die Welfen verstanden sich als ältere und damit länger in der sächsischen Geschichte verankerte Dynastie als die Wettiner, was den Kurfürsten sehr stark getroffen haben muss. Sie, die Welfen, hätten die ältere und demzufolge bedeutendere Anciennität. „Will man einen bei seiner Ehre nehmen, so packt man ihn bei den Mängeln in seinem ‚Herkommen‘“,41 meint treffend Olav Heinemann. Dies konnte der Wettiner so nicht stehen lassen. Er wollte seine Position durch Untermauerung mit genealogischen Argumenten stärken und negative Qualitäten im welfischen Geblüt hervorheben.42 Nach Auffassung von Herzog Heinrich dem Jüngeren wurde der ‚jungen‘ wettinischen Dynastie die Kurwürde aus dem erlesenen älteren und im Gebiet verwurzelten Geschlecht der Askanier nur verpflanzt, während die Welfen immanent mit der Geschichte des Herzogtums verbunden waren und schon aus diesem Grund eine edlere Abkunft haben mussten.43 Vor diesem Hintergrund in der Eskalation der Auseinandersetzung beauftragte Kurfürst Johann Friedrich I. von Sachsen seinen ehemaligen Erzieher Georg Spalatin zum Abfassen der genannten Schrift.44 Zudem wies der Kurfürst darauf hin, dass die zu erstellende Entgegnungsschrift vor allem die Vorwürfe der mangelhaften Herkunft entkräften sollte. Er griff persönlich in das Manuskript Spalatins ein und bat um Überarbeitung. Die 1541 in hoher Auflage erschienene Schrift zum Preis von nur zwei Groschen verdeutlicht die ihm beigemessene Priorität des anscheinend notwendigen Beweises des Wettiners gegen den Welfen hinsichtlich der Anciennität.45 Dem sächsischen Kurfürsten ging es wahrscheinlich mehr um die allgemeine Anerkennung als um Gewinn zu ziehen aus der Publikation.
Doch wechseln wir kurz den Raum, aber nicht die Dynastie, denn die Wettiner waren zu diesem Zeitpunkt in die altgläubige Linie der Albertiner und die lutherischen Ernestiner gespalten. Auf den albertinischen Herzog Heinrich folgte 1541 sein protestantischer Sohn Moritz zunächst als Herzog von Sachsen, nach der Schlacht von Sievershausen und der Wittenberger Kapitulation 1547 dann als Kurfürst von Sachsen-Wittenberg.46 Für die Auseinandersetzungen zwischen den ernestinischen Wettinern und den welfischen Herzögen von Braunschweig sind die bereits kurz skizzierten invektiven Auseinandersetzungen wichtig zu erwähnen, weil diese kontroversen schriftlich ausgetragenen Diskussionen von 1541 Vorläufer hatten, die noch zu benennen sind und langwährende Fortsetzungen nach sich zogen. Nur so ist zu verstehen, warum Spalatins Schrift von 1541 mit einem Vorwort von Philipp Melanchthon 1553 nochmals gedruckt wurde, aber diesmal im albertinischen Sachsen. Denn nach dem Verlust der Kurwürde für die ernestinische Linie 1547 musste sich diese wettinische Linie neu definieren und die ungebrochene Legitimation ihrer Herrschaft über Sachsen bestimmen, die freilich von anderen Dynastien angezweifelt wurde.47 Es lässt sich von einer über 100 Jahre währenden Kontroverse um die Anerkennung der Wettiner als höchste Reichsfürsten sprechen. Die Mehrzahl an genealogischen Arbeiten als Auftragswerke sollten den empfundenen Makel kompensieren und die seit je her genealogisch anhaltend legitime Idoneität der Wettiner belegen.48
Zu fragen ist, wie es zu der Eskalation in den invektiven Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit zwischen Heinrich dem Jüngeren und Johann Friedrich 1541 kam. Wo liegen die Ursachen des so wortgewaltig beleidigenden Schriftenaustausches? Vermutlich sind diese in der Art und Weise der Übertragung der sächsischen Kurwürde durch Kaiser Sigismund an den wettinischen Markgrafen Friedrich IV. von Meißen im Januar 1423 zu sehen. Denn mehrfach wiederholte der Welfe 1541 seine Vorwürfe, dass sich der Wettiner unehrenhaft durch Geldzahlungen die Kurwürde erkauft hätte.49 Zwar wurde Friedrich von Meißen kurze Zeit später in das Kurfürstenkolleg aufgenommen, doch nicht immer mit dem ranghöheren Titel eines Kurfürsten angesprochen. Er selbst verwendete den Titel anfangs kaum. Erst im August 1425 erfolgte die feierliche Belehnung in Ofen. Der über zweijährige zeitliche Abstand zwischen der Erhebung in den Kurfürstenstand und der feierlichen Handlung in Ofen ist dadurch zu erklären, dass es mehrere Bewerber um Sachsen-Wittenberg gab, so Markgraf Friedrich von Brandenburg, Pfalzgraf Ludwig III. und vor allem Herzog Erich V. von Sachsen-Lauenburg, der ein direkter Verwandter des verstorbenen Askaniers war, zudem bestand eine Erbverbrüderung der beiden sächsischen Linien seit 1374, die durch König Sigismund 1414 erneut bestätigt worden war.50 Sigismund, der im Reich nicht über eine starke Position verfügte, musste mit den anderen Bewerbern und den Kurfürsten erst einmal Konsens in dieser Angelegenheit herstellen, was den Wettiner sicher zunächst brüskierte.
Für die Argumentation Herzog Heinrichs des Jüngeren 1541 mit dem Kauf der Kurwürde ist der Passus wichtig, dass Markgraf Friedrich IV. von Meißen sich Sigismund gegenüber verpflichtet hatte, 2.000 Spieße und 2.000 Schützen für die Dauer von sechs Monaten auf seine Kosten zur Verfügung zu stellen für den Kampf gegen die Hussiten und zur Durchsetzung der Thronansprüche Sigismunds in Polen.51 Zum Kurfürstentag in Bingen 1424 wurde bei Abwesenheit von Sigismund über die Ansprüche des Lauenburgers diskutiert, die Frage aber wieder vertagt. Erich von Lauenburg strebte nach der feierlichen Belehnung Friedrichs 1425 einen Gerichtsentscheid vor Sigismund an, um doch noch die sächsische Kur zu erhalten. Im Jahr darauf entschied der König aber, dass die Ansprüche des Lauenburgers unberechtigt seien. Vorgelegte Dokumente wurden als Fälschung erkannt. In das Kurfürstenkolleg wurde dann zwar Friedrichs Sohn und Nachfolger, Friedrich der Sanftmütige, 1428 aufgenommen, aber ohne die Stimmen der Erzbischöfe von Köln und Trier wegen der Lauenburger Forderungen. Der Askanier wandte sich an die Kurie und die causa wurde beim Baseler Konzil 1434 verhandelt. Über den Tod Erichs V. 1435 hinaus flammten die Auseinandersetzungen über die Rechtmäßigkeit der Belehnung des Wettiners und der Anciennität der Dynastie immer wieder auf.52 Ernst Hinze formuliert in seiner 1906 eingereichten Dissertation resümierend treffend und richtig:
„Die Ansprüche des Lauenburger Hauses kamen zwar noch lange nicht zum Schweigen, aber sie waren nach wie vor erfolglos geltend gemacht, und somit erübrigt sich auch ein weiteres Eingehen auf dieselben.“ 53
Endgültig endeten die Forderungen nach Übertragung der Kurwürde auf die Askanier in Lauenburg mit deren Aussterben erst 1689. Aber dieser Rechtsstreit blieb im Bewusstsein der Öffentlichkeit und bedrohte beständig die Wettiner in der Frage ihrer Legitimität.54 Letztlich wurden diese Zweifel am Herkommen der seit 1806 durch Kaiser Napoleon mit königlicher Würde – aber ohne Krone – versehenen Dynastie erst von Otto Posse 1897 mit der Publikation der Genealogie der Wettiner geklärt. Posse, seit 1875 Direktor des Hauptstaatsarchives, Schüler von Leopold von Ranke und Georg Waitz, konnte die Ahnenreihe des Geschlechts bis in die Zeiten Kaiser Ottos des Großen belegen. In seinem Vorwort hebt er deren Idoneität hervor:
„Im Jahre 1889 konnte das Gesammthaus Wettin die achthundertjährige Wiederkehr des Tages begehen, mit dem seine Herrschaft über die Sächsischen Lande begonnen hat. Im Herzen Deutschlands gelegen, waren im Laufe der Jahrhunderte die Wettiner Lande Träger Deutscher Kultur und Sitte. In der Geschichte ihres Fürstenhauses drängt sich die Summe hervorragender Eigenschaften der Germanen zusammen: das Geschlecht zeigt geniale Krieger, feinsinnige Denker, hochstrebende Kunstliebhaber. In Sachsen gelangte dank der Fürsorge seiner Fürsten die Literatur zu ungeahnter Blüthe, Wissenschaft und Gewerbefleiss mehrten den Ruhm und Wohlstand des Landes.“ 55
Vor dem historischen Hintergrund der offiziellen Feierlichkeiten anlässlich der 800-jährigen Herrschaft des Hauses Wettin 1889 in Sachsen sind die seit 1539 gedruckt ausgetragenen Schmäh- und Verleumdungsduelle zwischen dem Wettiner und dem Welfen einzuordnen. Es ging um die Wurzeln und die Identität des Hauses Sachsen und das Selbstverständnis der Wettiner.56 Mit der Beauftragung Spalatins, die ungebrochene, ältere und geradlinige Herkunft der Dynastie und damit auch deren Verortung im somit angestammten sächsischen Raum zu erstellen, wurde ein Wechsel in der Diskursebene eingeleitet. Es ging nun nicht mehr nur um verbale Beleidigungen unter Einbindung der Öffentlichkeit durch Druckmedien, sondern auch um einen Paradigmenwechsel. Der humanistisch gebildete, genealogisch arbeitende ehemalige Prinzenerzieher sollte anhand von historischen Quellen den Beweis erbringen, dass die Wettiner von edlerem und älterem sächsischen Geblüt seien als die Welfen. Nur ihnen gebühre das Recht der Herrschaft über Sachsen.
Spalatin gliedert seine Abhandlung in fünf Abschnitte und beginnt gleich im ersten mit seiner Polemik gegen die Welfen, indem er schon in der Überschrift den Grund für seine Stellungnahme formuliert: „Wie es umb die Chůr /vnd Fürstliche Heuser zu Sachssen / vnd Braunschweig /bewand“. Wir haben also auf der einen Seite ein Fürstenhaus und andererseits lediglich die Menschen mit der Herkunftsbezeichnung Braunschweig. Darauf folgen Ausführungen über Veränderungen im kurfürstlichen Haus bis zum Jahr der Drucklegung. In Abschnitt drei wird mit wertenden Worten „Von den loeblichen alten herkomen /der jtzigen Chur / vnd Fürsten zu Sachssen / vnd irer Vorfaren /Vnd iren herrlichen / ehrlichen / vnd menlichen thaten“ geschrieben. Vor allem die Betonung, dass die Wettiner nur ehrliche und wahrhaftig ritterliche Taten vollbracht hätten, zeigt die Zielrichtung der Schrift. Aber statt sich sofort gegen die Welfen zu stellen, fügt er noch einen Abschnitt über die ebenfalls herrlichen und übermenschlichen und gottesfürchtigen Taten der ottonischen Dynastie ein. Damit soll eine kontinuierliche Linie zu den aus Sachsen stammenden Königen aufgebaut und die Wettiner als deren Nachfolger artikuliert werden. Erst im letzten Abschnitt geht es bei Spalatin konkret um die Auseinandersetzung mit Herzog Heinrich von Braunschweig, den er sehr sachlich und kurz überschreibt: „Von Hertzog Heinrichen zu Braunschweig herkomen vnd Vorfaren.“ 57
Dass seine Ausführungen unhinterfragbar und demzufolge wahr seien, verdeutlicht er durch das dreiseitige Aufführen von Quellen, die seine darauf folgende Argumentation belegen sollen. Dies soll von seiner Belesenheit und seiner Vernetzung mit den Humanisten seiner Zeit zeugen. So wird „Aus dem Strabone /Griechen, Aus dem Herodiano /Griechen, Aus dem Suetonio /Roemer, Aus dem Cornelio Tacito Roemer“ sowie Beda Venerabilis, die Chronik Thietmars von Merseburg, das Werk Widukinds von Corvey und vor allem Otto von Freising mit seiner Geschichte der zwei Staaten und der Gesta Friderici aufgeführt. Es fehlt nicht eine wichtige und zahlreich rezipierte Überlieferung zur altsächsischen und markmeißnischen Geschichte. Spalatin zitiert auch päpstliche Bullen als Ausdruck höchster Autorität und geht bei den Autoren bis in seine Zeit:
Aus einer Chronicken auszug / aus keiser Maximilianus Hoff, Aus Herrn Johann Stabii /Keiser Maximilianus Historici etc. etlichen Stammenbewmen, Aus Doctor Albrecht Crantz /Dechand zu Hamburg /Sechssischen Historien.58
Die Auflistung der Quellen zeugt von seinem Bemühen um eine sachliche Auseinandersetzung Kurfürst Johann Friedrichs von Sachsen um die ehrenvollere und ältere Abstammung im Gegensatz zu Herzog Heinrich dem Jüngeren von Braunschweig und den invektiven Schriften, die im zeitlichen Zusammenhang mit dem Regensburger Reichstag 1541 entstanden.
Gleich zu Beginn betont Spalatin den Grund für seine Stellungnahme. So habe Herzog Heinrich „sich vnterstehet hoch zu rhůmen /vnd vber den itzigen Churfůrsten zu Sachssen /zuerheben“. Nach seiner Auffassung sei es klar, dass ein Geschlecht, das viele Jahrhunderte Römische Kaiser, Könige, Fürsten und Herren hervorgebracht hat, eine größere Idoneität haben müsse als die Welfen. Als Beleg führt er zahlreiche Chronisten an, wo dies nachgelesen werden könne. Zudem haben sie seit den Zeiten des legendären Königs „Syghard zu Sachssen“ und des „Koenigs Dagobrechts Francorum“ um 400 geherrscht, die Welfen aber erst seit Kaiser Heinrich IV. im 11. Jahrhundert, dann unter Kaiser Lothar III. und schließlich unter Kaiser Friedrich Barbarossa im 12. Jahrhundert als Herzöge in Sachsen. Zudem würden die Wettiner von „Gros Hertzogen zu Sachssen Widekind / vnd seinem bruder Braun /des Roem. Keiserlichen vnd Koen. Blutstammens“ abstammen.59 Die Vorfahren Heinrichs des Jüngeren, namentlich Heinrich der Löwe, seien hingegen wegen ihrer Verweigerung der Lehnsleistung des Heerbanns und der damit verbundenen Demütigung Kaiser Friedrich Barbarossas aller ihrer Lehen in Bayern und Sachsen reichsrechtlich abgesichert verurteilt worden und „in die Acht gethan“.
In seiner Argumentation geht Spalatin noch weiter und verweist auf die Dauer der Herrschaft der Welfen in Sachsen, das heißt darauf, dass sie von Kaiser Lothar belehnt worden und nur 40 oder 50 Jahre Herzöge gewesen seien. Das wettinische Geschlecht habe so mehr königliche Vorfahren aufzuweisen als die Welfen, die nur einen hätten, nämlich Kaiser Otto IV., und zwar zum Zeitpunkt „als sein vater Hertzog Heinrich der Lewe vnd hoffertige/ seiner Fůrstenthumb zu Sachssen vnd Baiern/ bereit entsetzt gewest“ sei.60 Heinrich der Jüngere von Braunschweig habe somit unehrenhafte Vorfahren, als Beleg nennt Spalatin Thietmar von Merseburg und Otto von Freising. Zudem gipfelt seine Argumentation, immer mit Bezug auf nachlesbare Quellen, darin, dass die Welfen „elteste Vorfaren/ Schwaben oder/ als etliche Chronicken haben/ Beyern Vnd gar nicht wider den rechten alten Widekindischen/ noch Heinrichischen/ oder Ottonischen/Sachssen sind gewest“.61 Damit möchte er deutlich machen, dass im Gegensatz zu den Wettinern die Welfen keinerlei Ansprüche formulieren dürften auf eine ehrwürdige sächsische Abstammung. Sie seien Schwaben und das frühmittelalterliche Herzogtum Schwaben sei im 16. Jahrhundert schon lange von der politischen Landkarte verschwunden gewesen. Der dezidierte Hinweis auf die schwäbische Abkunft der Welfen ist schwer zu interpretieren. Möchte Spalatin hier herkunftsspezifische Ressentiments anführen und den Schwaben negative Eigenschaften unterstellen? Er selbst stammt aus Franken und auch dieses Herzogtum existierte zu Beginn der Frühen Neuzeit nicht mehr. Zu bedenken ist dabei aber auch, dass die Chronik ein Auftragswerk des sächsischen Kurfürsten war mit einer ganz klar vorgegebenen Zielrichtung zur Herausarbeitung der besonderen Idoneität der Wettiner. Und diesen fühlte er sich aus Gründen der Loyalität dem Landesherren gegenüber verpflichtet.
Zudem betont Spalatin weiter, dass der große sächsische Held Arminius erfolgreich gegen die Römer gekämpft und einen gewaltigen Sieg errungen habe. Welfen oder Schwaben seien nicht dabei gewesen. Also gebühre der Ruhm einzig und allein den Sachsen. In seiner Argumentation wechselt er dicht aufeinanderfolgend in der chronologischen Ordnung sofort wieder zu Herzog Heinrich dem Löwen, der zu seinem Schwager, dem englischen König geflohen sei. Tatsächlich musste er aber auf kaiserlichen Befehl das Reich für einige Jahre verlassen. Heinrich II. von England habe „im auch sein Wapen/ die Leoparden mit geteilt“.62 Stets versieht Spalatin Heinrich den Löwen abwertend mit negativen Attributen.63 Das sächsische Wappen sei eine Eigenkreation und habe ursprünglich ein schwarzes Pferd auf rotem Untergrund gezeigt, kein geringerer als Kaiser Karl der Große habe es zu dem nun bekannten verändert. Nur im Raum verwurzelte Sachsen dürften das Wappen mit dem weißen Pferd auf rotem Grund verwenden. Hier verfälscht Spalatin eine Textstelle bei Widukind. Das welfische Wappen sei hingegen nicht mit der glorreichen Geschichte der edlen Sachsen verbunden, die das Wappen ausdrücke, so Spalatin. Zudem verwahrt er sich gegen die Behauptung, dass das jetzige kurfürstlich-sächsische Geschlecht ein „einsetzling vn Neuling“ sei.64
Hier nimmt Spalatin direkt Bezug auf die mehrfachen Invektiven Herzog Heinrichs des Jüngeren seit 1539, in denen Heinrich des öfteren den angeblichen Kauf der Kurwürde durch die Wettiner thematisiert. Es sollte eine direkte öffentliche Antwort auf die Behauptungen des Welfen sein. Denn schließlich hätten die Wettiner, obwohl der Braunschweiger fälschlicherweise etwas anderes behauptet habe, „ehrliche grostetige Vorfordern“ aufzuweisen.65 Spalatin zielt hier wiederum auf die Verweigerung des Heerbanns durch Heinrich den Löwen Kaiser Friedrich Barbarossa gegenüber. Durch dieses mehr als unehrenhafte Verhalten seien die Welfen über Generationen gebrandmarkt, was sich nun erneut beim Braunschweiger zeige. Zur weiteren Unterlegung seiner Argumentation führt er an, dass sich in der Zeit des sog. Investiturstreits Herzog Otto von Bayern „vngehorsamlich wider in setzten/ vnd einen andern Keiser welen woelten“.66 Er sei zwar ein durchaus altetablierter Sachse, aber auch sein Schwager Rudolf von Schwaben habe sich daran beteiligt. Gemeint ist damit der Gegenkönig Heinrichs IV., was nur dem historisch gebildeten Laien bekannt gewesen sei. So habe sich die „bosheit/ so sie lang in jrem hertzen getragen/ ausgeschuet/ vnd sich oeffentlich wider den Herrn Keiser gesetzt“.67 Rudolf von Rheinfelden sei dafür zurecht hart bestraft worden, habe nicht nur die Schlacht im Welfesholz, sondern vor allem die Schwurhand verloren und dann verstorben. Spalatin betont immer wieder, dass die Welfen keinerlei Bezug zu Sachsen hätten, denn sie seien Schwaben und hätten Bayern als Lehen erhalten.68 Die schwäbischen Welfen hätten nicht nur gegen Heinrich IV. und Heinrich V. opponiert, sondern auch gegen die Königserhebung Lothars von Sachsen gestimmt, wie er in seiner Argumentation fortfährt: „Denn die Schwaben vnd Francken liessen das reich nicht gerne an Sachsen komen. … Darumb satzten sie sich wider Keiser Lotharien/ Vnd unterstunden sich/ das Reich bey sich zu behalten“.69
Spalatin geht in seiner chronologisch aufgebauten Argumentation gegen die Welfen weiter, benötigt eine plausible Erklärung für die Belehnung der Welfen mit dem Herzogtum Sachsen und findet eine recht pragmatische Erklärung: „Wie nun Keiser Lothar zum letzen in Italien hat wollen reisen/ hat er seinen Tochterman dem Welffen/ Hertzogen zu Beiern/ das Hertzogthumb zu Sachssen gegeben.“ 70 Er habe so das Reich in Sicherheit wissen wollen und seinem Verwandten vertraut. Spalatin verschweigt aber auch nicht, dass Lothars Schwiegersohn, Herzog Heinrich der Stolze, in Königslutter neben dem Kaiser bestattet wurde. Die Welfen seien im falschen Vertrauen des Supplinburgers Herzöge von Sachsen geworden und auch nur wegen des Romzugs des Königs. Darüber herrsche nach Spalatins Einschätzung tiefe Enttäuschung. In der Abfolge der Könige geht er richtig sofort danach auf Konrad II. über, der von Geburt her ein Schwabe gewesen sei, was Spalatin erneut betont, dem die Vorfahren Heinrichs von Braunschweig ablehnend gegenübergestanden seien.71 Sie haben das Reich an sich bringen wollen. Auch unter Kaiser Friedrich Barbarossa habe sich die ablehnende Grundhaltung der Welfen gegenüber dem rechtmäßigen König nicht geändert. Barbarossa habe Heinrich dem Löwen zwar neben Sachsen auch noch Bayern als Lehen übertragen, aber dieser habe den Herrscher „vbel vnd vntrewlich verlassen“.72 Der Welfe habe dabei seinen wahren Charakter gezeigt wie seitdem seit Generationen bei den Welfen immer wieder, denn er sei „so stoltz vnd hoffertig worden“. Doch damit nicht genug. Nach Spalatin habe Heinrich der Löwe massiven Widerstand mehrerer Fürsten gegen König und Kaiser organisiert.73
Spalatin teilt auch hier nicht nur seine persönliche Einschätzung mit, sondern unterlegt sie mit Quellenbelegen. So führt er an, dass dies u. a. bereits Otto von Freising oder Albrecht Crantz ausgeführt hätten. Dabei wird er ziemlich genau in den Quellenangaben, indem er das entsprechende Buch oder Kapitel des jeweiligen Textes angibt. Er bezieht sich stets auf Autoritäten. Es ist eben mehr als nur eine hart formulierte Invektive, wodurch sich diese Schrift deutlich von anderen Schmähschriften abhebt. Grundlage seiner Argumentation ist dabei die in der Öffentlichkeit kursierende Behauptung des Welfen über die ältere und edlere sächsische Abkunft. Mit seinem enzyklopädischen Ansatz erhebt sich Spalatin aber mit seiner humanistisch begründeten Ansicht über die lediglich schmähend formulierten Aussagen. Schließlich sei das „Fuerstenthumb zu Sachssen/ etlich hundert jare/ vor des Roe. Keisers Otto/ des ersten regierung vnd belehnung/ zu dem Churfuerstlichen vnd fuerstlichen Haus zu Sachssen/ gehort hat“.74 Endlich geht er direkt auf die Wettiner und deren Vorfahren ein und hebt hervor, dass diese „Burggrauen vnd Landvogte zu Zorbeck/ vnd Grauen zu Wittyn/ dem Roe. Koenig Heinrich/ dem Fogler oder Finckler/ vnd den dreien Roemischen Keisern Ottonen/ Vnd sonderlich den zweien Koenigen Sigharden vnd Diettrichen / zu Sachssen/ vater vnd Son/ dieser gestalt verwand gewest“ seien.75 Die Wettiner seien demzufolge nicht nur Nachfahren der ottonischen Königsdynastie, sondern auch Agnaten der legendären ersten sächsischen Könige. Schwaben hingegen, der Herkunftsraum der Welfen, sei unter Kaiser Otto I. durch seinen Sohn Liudolf regiert worden.76 Also hätten sie noch nicht einmal in ihren Stammlanden Herrschaftsrechte wahrgenommen, so die mögliche Schlussfolgerung des Lesers dieser Invektive.
Spalatin wechselt schnell nach der Feststellung der Stammlande der Welfen die Zeit und zitiert mit Johann Stabius den Hofchronisten Kaiser Maximilians I. Dieser hochgelehrte Mann habe herausgearbeitet, dass Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen ein rechtmäßiger und etablierter Nachfahre Sighards und Widukinds seit 26 Generationen sei.77 Den ersten Teil seiner Stellungnahme gegenüber dem welfischen Herzog Heinrich schließt Spalatin mit den Worten:
… das je des itzigen Churfuersten zu Sachssen/ Herzogen Johansen Fridrichen/ herkomen/ so new vnd gruen/ nicht ist/ als on grund aller Chronicken furgibt vnd gerne in die leute/ jm zu vnglimpf vnd erkleinerung/ treiben wollte.78
Damit greift er die Invektiven des Welfen seit 1539 nochmals auf. In der welfischen Publizistik um 1541 hatte Herzog Heinrich wie ausgeführt immer wieder den Kauf der sächsischen Kurwürde 1423 durch die Wettiner angeprangert. Spalatin pariert dies damit, indem er vor allem die ältere und ehrvollere Herkunft der Wettiner belegt. Die Wettiner hätten eine wesentlich weiter zurückreichende Idoneität als die Welfen. Zudem sei es falsch, so Spalatin, was Herzog Heinrich der Jüngere von Braunschweig in gedruckten Werken behaupte, dass das sächsische Rautenwappen braunschweigischen Ursprungs sei. Doch bei genauer Recherche in den Quellen, so wiederum Spalatin, sei dies als weitere Lüge und Anmaßung des Welfen zu identifizieren.79 Wie ungebildet Heinrich von Braunschweig sei, zeige sich auch darin, dass er sich auf Chroniken im sächsischen Dialekt beziehe, Spalatin aber auf das Werk von Albrecht Crantz in lateinischer Sprache, der Sprache der Gelehrten.80 Dieser Seitenhieb auf das sprachliche Unvermögen durchzieht die gesamte Abhandlung. Spalatin habe natürlich die deutsche Sprache verwenden müssen, damit sein Widerpart ihn überhaupt verstehen und folgen könne. So sollten es die zeitgenössischen Rezipienten interpretieren. Die Welfen seien niemals in ganz Sachsen verwurzelt gewesen, sondern nur durch späte Belehnung Herzöge von Braunschweig und Lüneburg, also nur in einem kleinen Raum des viel größeren Sachsens.81 Die Wettiner hingegen seien seit dem wiederholt genannten König Sighard mit Herrschaftsrechten von Geburt an der Region eingebunden. Zudem hätten sie im Gegensatz zu den Welfen seit den Zeiten Karls des Großen gegen die heidnischen Sorben gekämpft, gesiegt und seien mit deren Landen für ihren Einsatz belohnt worden, hätten damit Sachsen territorial erweitert, während die Welfen auf Braunschweig und Lüneburg begrenzt blieben und erst seit „vngeeuerlich/ dreihundert vnd viertzig jar/ Herzogen zu Braunschweig vnd Lueneburg gewest“ seien.82
Im zweiten Teil seiner Invektive gegen Heinrich von Braunschweig zielt Spalatin darauf ab, herauszuarbeiten, wie sich das sächsische Fürsten- und Kurfürstenhaus in den letzten achthundert Jahren entwickelt hat unter Zuhilfenahme lateinischer Quellen, die er aber zum besseren Verständnis nicht nur den Welfen gegenüber übersetzte.83 Er strebt damit eine größere Öffentlichkeit im protestantischen Lager an und zielt damit sicher auch auf den Bildungsstand des Braunschweigers ab. Wie im ersten Abschnitt seiner Schrift bringt er auch hier wie im Gelehrtenbetrieb üblich seine Argumente in nummerierten Passagen, die jeweils mit einer Zusammenfassung enden. Einleitend äußert er, dass er in sechs Entwicklungsabschnitten berichten will. Zudem bedauert er wiederholt, dass er dies in deutscher Sprache tun muss, bedienten sich doch die Gelehrten der gebildeten lateinischen Sprache. Aber um verstanden zu werden, sei dies notwendig.84 Dies bedauernd fährt Spalatin fort, dass die Sachsen schon vor Christi Geburt von einheimischen Königen regiert worden seien. Bei Beda Venerabilis aus dem 8. Jahrhundert, den er zitiert, sei nachzulesen, dass die Sachsen und Angelsachsen einst eine gemeinsame Nation gewesen seien. Auch Thietmar von Merseburg und Otto von Freising hätten in ihren Chroniken die lange und ehrwürdige Ahnenreihe der ottonischen Herrscher herausgearbeitet. Erst unter Kaiser Otto I. sei das Gebiet um Lüneburg, also nur ein kleiner Teil des sächsischen Territoriums, als Fürstentum vergeben worden. Die sächsische Kurwürde, die es im 10. Jahrhundert noch nicht gab, sei aber bei der direkten Linie verblieben.85 Mit dieser Aussage möchte Spalatin an die königliche Gnade der Teilnahme an der politischen Herrschaft erinnern und zugleich erneut auf das ehrverletzende Verhalten Heinrichs des Löwen verweisen, was sich nun in den invektiven Anwürfen der gegenwärtigen Welfen fortsetze.
Kaiser Otto I. habe nur wegen einer Rebellion des Papstes Johannes XIII. Hermann Billung, ehemals Landvogt und Sohn eines armen Edelmanns, das Herzogtum Sachsen und Lüneburg an die Billunger zusammen mit einem neu geschaffenen Wappen übertragen, das nun auch die Welfen für sich beanspruchten und verwendeten. Über fünf Generationen und 150 Jahre bis in die Zeit Kaiser Heinrichs V. hätten sich diese, wiederum im Gegensatz zu den Herzögen von Braunschweig, treu dem Königtum gegenüber verhalten.86 Nach dem Aussterben der Billunger habe Kaiser Heinrich V. „gnediglich“ dem „Grauen Lother oder Luder“ das Herzogtum Sachsen verlehnt und dieser habe es ihm „Vbel gedanckt“.87 Sachsen sei nun an die Welfen durch Belehnung unter Kaiser Lothar an Heinrich den Stolzen gekommen, der es „seinem Tochtermann/ Hertzog Heinrich Welffen/ zu Bayern“ gegeben habe. Somit habe ein ehemaliger Graf Sachsen an einen Fremden übertragen und nicht an einen in der Region verwurzelten Herrschaftsträger.88 Detailliert beschreibt Spalatin die Entmachtung Heinrichs des Löwen 1180 und die Belehnung der Askanier, hier als Fürsten von Anhalt bezeichnet und damit höherstehend als Graf Lothar. Sie hätten mit königlichem Einvernehmen über 200 Jahre bis 1423, also ein bis zwei Generationen länger als die Billunger, geherrscht.89
Zum Schluss dieses Abschnitts gibt Spalatin sehr kenntnisreich die Auseinandersetzungen der Askanier in Lauenburg mit Kaiser Sigismund wieder, der wie erwähnt 1423 die vakante sächsische Kurwürde an Friedrich IV., Markgraf von Meißen, Landgraf von Thüringen und Pfalzgraf von Sachsen, vergeben hat. Spalatin führt alle Titel an und erhebt Friedrich so über alle anderen Bewerber. Auch nennt er die Gründe für die Entscheidung des Kaisers. Schließlich seien Friedrichs Vorfahren Sachsen gewesen. Der Lauenburger Erich sei hingegen nur Herzog von Niedersachsen und nur entfernt verwandt mit den Fürsten von Anhalt. Der Wettiner Friedrich residiere nun in Wittenberg, dem Zentrum des Kurfürstentums, und würde beleidigend von Erich nur als Herzog von Obersachsen bezeichnet. „Aber solche Tittel/ hab ich sonst in keinem Historico/ bisher/ gefunden“, so Spalatin. Sondern vielmehr sind mit der Belehnung Friedrichs 1423 die „nehest verwante Blutsfreunde/ widerkomen“. Alle anderen zwischenzeitlichen Herrscher in Sachsen hätten „nicht in den Blutsamen/ der jtzigen Chuer/ vnd Fuersten zu Sachssen/ gehoert“.90 Vielmehr sei er nicht nur Kurfürst, sondern auch Erzmarschall des Reiches dank kaiserlicher Gnade und von der Herkunft dafür geradezu prädestiniert. Mit genauen Angaben versieht Spalatin unter Zitation von Urkunden die Versuche des Lauenburgers zum Erhalt der Kurwürde.91 Dabei geht er auch chronologisch zurück. Er führt die sächsischen Herrscher seit Heinrich VII. im 14. Jahrhundert auf und geht auch auf Karl IV., Günther von Schwarzburg, Ludwig den Bayern, Friedrich den Schönen und Wenzel ein. Alle hätten Sachsen als ein besonders traditionsreiches Fürstentum gesehen und niemals in unebenbürtige Hände vergeben. Mit der Übertragung der Kurwürde auf die Wettiner 1423 sei es nun an eine etablierte Linie mit hoher Idoneität zurückgekommen.92
Breiten Raum nehmen Spalatins Schilderungen zu den Vorfahren der Wettiner ein, die nach den Fränkischen Reichsannalen direkte Nachfahren des legendären sächsischen Königs Sighard seien. Dazu zitiert er auch die Chronik vom Lauterberg, die Chronik von Reinhardsbrunn in Thüringen und die Annalen von Altzelle. Er hebt gleich zu Beginn dieses Kapitels die Abstammung des jetzigen Kurfürsten hervor, „der vber die/ so zuvor in diesen Blutstammen/ gehort/ ausserhalbe/ auch der seitlichen Linien/ Voreltern vnd Vorfarn/ nach dem Blutsstammen“ herkommt, agnatisch und kognatisch.93 In diese Ahnenreihe gehöre natürlich auch Widukind von Sachsen und dessen gleichnamiger Sohn, der die Sorben in sein Reich eingegliedert habe. Ebenso seien sie an der Schlacht auf dem Lechfeld 955 beteiligt gewesen, wo die Ungarngefahr endgültig beseitigt worden sei, als sie an der Seite Ottos I. kämpften.94 Er geht im weiteren Verlauf auf alle namentlich bekannten Wettiner und deren Herrschaftsraum ein und findet nur lobende Worte. Dies ist bemerkenswert, weil in seinem Hauptwerk, die Chronik der Sachsen und Thüringer, zwar auch jeder Wettiner angeführt wird, aber durchaus auch deren Schwächen und Fehlleistungen benannt werden.95 Für ihn ist es unerklärlich, dass Herzog Heinrich – ein Schwabe und erst seit Zeiten Kaiser Lothars in Sachsen und nur auf Lüneburg und Braunschweig beschränkt – sich als Angehöriger eines älteren und edleren sächsischen Geschlecht ausgeben kann in einem „verdrieslichen Lesterdruck“.96
Spalatin argumentiert klassisch scholastisch, indem er die Invektive des Braunschweigers fast wörtlich aufgreift, um dann nach der sic-et-non-Methode zu einem anderen Ergebnis zu kommen. Im Gegensatz zum Welfen habe er sowohl lateinische als auch deutsche Chroniken studiert. Aber über einen solchen Wissensstand verfüge Heinrich ja nicht. Vielmehr hätten sich die Vorfahren ungebührlich den staufischen Herrschern gegenüber verhalten, was deren Entmachtung 1180 zur Folge gehabt habe. Die Wettiner hingegen hätten 1247 noch die Landgrafschaft Thüringen und die Pfalzgrafschaft Sachsen sowie die Burggrafschaft Magdeburg erhalten. Der erlauchte Fürst Heinrich habe das Ansehen der festverwurzelten Familie noch steigern können, denn Kaiser Friedrich II. habe seine Tochter Margarethe Heinrichs Sohn Albrecht zur Frau gegeben. So sei erneut königliches Blut in diese Linie gekommen, was die Welfen nicht aufzuweisen hätten, denn laut Spalatin habe in Braunschweig nun Otto, genannt das Kind, geherrscht. Seine detaillierten genealogischen Kenntnisse setzt er gezielt ein, um den Welfen herabzusetzen. Unter dem Wittelsbacher Ludwig im 14. Jahrhundert sei es erneut zu einem Ehekontrakt und demzufolge einer weiteren Aufwertung der Wettiner gekommen.97 Und 1353 sei der Herrschaftsbereich des Wettiners Friedrich III. durch Kaiser Karl IV. reichsrechtlich um das Land Coburg in Franken erweitert worden.98 Die Welfen hingegen könnten keine solch ehrsteigernden Eheverbindungen aufweisen und seien territorial weiterhin sehr eingeschränkt in einem Teil Sachsens als Fremde geblieben. Alle Anerkennung der Wettiner seitens des Königtums, wie z. B. die Belehnung mit der sächsischen Kurwürde 1423, gingen auf ihr treues Verhalten und ihren edlen Charakter zurück und seien niemals durch Geldzahlungen erworben worden. Wer so etwas behauptet, handele bewusst widerwärtig und hinterhältig.99 Zudem seien die Wettiner im Gegensatz zu den Welfen bei ihrem Einsatz für den König und das Reich „nicht solche Memmen gewest“.100 Damit nimmt Spalatin direkt Bezug auf die Invektiven des Braunschweigers.
Auch Abwesenheit des wettinischen Kurfürsten auf dem Regensburger Reichstag 1541 kann Spalatin historisch erklären. Falls jemals ein sächsischer Kurfürst nicht zu einem Reichstag erschienen sein sollte, habe dies stets gesundheitliche Gründe gehabt. Man habe aber einen Vertreter geschickt. Dreißig Beratungen an der Seite von Friedrich III., Maximilian I. und Karl V. hätten die Wettiner als Erzmarschälle unterstützt. Zudem ginge die Stiftung der Universität Wittenberg auf die Wettiner zurück, wo neben Martin Luther auch Philipp Melanchthon lehrte.101 Eine solche Leistung hätten die Welfen nicht aufzuweisen. Zudem hätten die Wettiner ihr Herrschaftsgebiet stets arrondiert und erweitert und nicht permanent geteilt und sich so selbst geschwächt.102 Dabei übergeht Spalatin geflissentlich die einschneidende Leipziger Teilung von 1485, wo der wettinische Herrschaftsbereich in das albertinische Herzogtum Sachsen und das ernestinische Kurfürstentum Sachsen geteilt wurde, also etwa eine Generation vor ihm, was noch sehr bewusst war.103 Schließlich blieb die albertinische Linie altgläubig und die ernestinische Linie förderte den Protestantismus bzw. ermöglichte diesen erst. Für die Argumentation Spalatins spielt es auch keine Rolle, trotz genügend Informationen aus den Quellen, die er beständig zitiert, dass die Wettiner bereits 1382 in Chemnitz ihre Lehen und Allode geteilt hatten und zeitweilig aus drei konkurrierenden Linien bestanden.104
Als Kaiser Maximilian I. 1519 verstarb, also schon zu Zeiten der konfessionellen Auseinandersetzungen, hätten die Wettiner die angebotene Krone abgelehnt. Kurfürst Friedrich der Weise habe sie wegen „seiner sorgfeltigkeit/ nicht angenomen/ Sondern sein Stim Keiser Karln dem fuenfften/ gegeben/ Vnd also die Keiserliche Kron/ von seinem heubt genomen/ vnd itziger Keys. Maie. auffgesatz“.105 Einer solchen Demut dem Amt des Königtums gegenüber bei solch starker Verwurzelung in Sachsen hätten die Welfen und insbesondere der Braunschweiger Heinrich nichts entgegenzusetzen gehabt. Vielmehr spielt Spalatin wiederum auf das ehrverletzende Handeln Heinrichs des Löwen gegenüber Kaiser Friedrich Barbarossa an. Sein dritter Abschnitt endet mit einem invektivisch verwendeten Zitat, das der Welfe durch seinen Bildungsstand vermutlich nicht vollständig verstehen konnte, aber die gelehrte Welt: „so muessten ehe/ vber alle andere beschwerung/ auch personen aus Fuerstlichen heusern herkomen/ nur boese buecher wider in zu schreiben/ Aber es heist also/ Verbum Domini manet in aeternum.“ 106 Mit diesen Worten schließt der dritte Teil mit polemischen Äußerungen gegen den welfischen Herzog Heinrich von Braunschweig.
Den vierten Teil widmet Spalatin „den hochrhuemlichen Geschichte/ der zween Heinrichen vnd dreien Ottonen/ aller / Roemischen Keisern/ zu diesem itzigen Chur vnd Fuerstlichem Haus zu Sachssen gehoerig“.107 Dabei arbeitet er wiederum in scholastischer Methode die Zugehörigkeit der Wettiner zu den ottonisch-sächsischen Vorfahren heraus und vor allem, im Gegensatz zu den schwäbischen Welfen, deren Verankerung in der Region. Es mangelt nicht, wie bisher, an Zitaten nach Autoritäten vergangener Zeiten, um die wettinische Idoneität zu belegen. Die Gründung der sorbenländischen Bistümer Meißen, Zeitz und Merseburg 968 etwa wie auch die Einrichtung des Erzbistums Gnesen 1000 sowie die Heirat Ottos II. mit Theophanu, einer ‚Tochter‘ des byzantinischen Kaisers, lässt er nicht unerwähnt. Den Kampf gegen die aufrührerischen Italiener und Dänen schmückt er wortgewaltig aus und betont immer wieder die Entschlossenheit der Ottonen, deren Stärke und deren Siegeswillen. Den Wechsel zur bayerischen Linie der Ottonen in der Königswürde begründet Spalatin damit, Heinrich II., ein heiliger König, sei von „der geburt auch ein Sachs/ …/ gewest. Denn sein Vater/ Hertzog Heinrich zu Bayern/ ist ein leiblicher bruder des Roe. Keisers Otto/ des ersten oder grossen/ gewest“.108 Dabei verschweigt er scheinbar ganz bewusst, dass Herzog Heinrich der Zänker einen Aufstand geplant hatte und sich der Königswürde bemächtigen wollte. Dann vollzieht Spalatin einen großen chronologischen Sprung zu den Saliern Heinrich III., Heinrich IV. und Heinrich V., ohne auf den Begründer der Königsdynastie Konrad II. einzugehen. Die Ahnenfolge scheint ihm in der Auseinandersetzung mit den Welfen wichtiger. Die drei Heinriche seien eben auch aus den „blutstammen herkomen“, ohne freilich Belege anzuführen, die es nicht gibt.109 Spalatin blendet in seiner weiteren Argumentation die nachfolgenden Königsdynastien der Staufer, Luxemburger, Nassauer und Wittelsbacher aus, stellt aber eine enge Bindung des altgläubigen Wettiners Georg von Sachsen zu Beginn des 16. Jahrhunderts zum habsburgischen Kaiser Maximilian her. Dieser habe für seine treuen Dienste für die Krone die Statthalterschaft über Friesland erhalten.110 Damit betreibt Spalatin historiographia und nicht chronologia in bekannter scholastischer Weise. Er wählt aus der Geschichte Ereignisse aus und formt diese um, um ein bestimmtes Ziel bei den Rezipienten zu erreichen, nämlich den Nachweis der ehrwürdigeren Herkunft der Wettiner im Unterschied zu den Welfen. Damit endet das Kapitel.
Die folgenden wenigen Druckseiten über die Vorfahren Herzog Heinrichs des Jüngeren zu Braunschweig stehen vom Umfang her diametral den bisherigen Ausführungen gegenüber. Auf über 60 Seiten hat Spalatin die Herkunft des erlauchten Geschlechts der Wettiner, fest verankert im sächsischen Herkunftsgebiet und stets verbunden mit der Reichsgeschichte, dargelegt. Sein genealogisches Vorgehen, unterlegt mit zahlreichen Quellenzitaten, hätte doch eigentlich den Zweck erfüllt. Denn den entsprechenden Eindruck habe er ja anscheinend bei den Rezipienten seiner Invektive erreichen wollen. Die Behauptung nun, dass Heinrichs Vorfahren bis zu den Trojanern zurückreichen, sei nicht zu belegen, fährt Spalatin aber fort. Die offizielle lateinische Geschichtsschreibung am Hof Maximilians habe die Welfen eindeutig als Schwaben und Bayern eingestuft, woran es nach Spalatins Kenntnis der Überlieferung keinen Zweifel gebe.111 Eine eigene Abstammung von Catulos zu behaupten sei falsch. Denn es habe nach Cicero und Sallust in der Römerzeit nur Catuli gegeben, die aber „auffrhuerisch/ wider sein eigen Heimat vnd Vaterland [seien]/ vnd richtet gros jamer vnd not an“.112 Ein Bezug mache aber, so Spalatin, schnell die wahren Vorfahren der Welfen sichtbar. Und so sei es belegt, dass „Ethico/ ein Graff zu Altdirff und Andechs/ vnd Herr zu Hohenwart/ der Welffen Stammen/ Grosvater/ vnd Anherr sey“. Und deren Nachfahren hätten sich bereits gegen Kaiser Heinrich IV. aufgelehnt und Herzog Heinrich der Löwe habe, wie Spalatin erneut wiederholt, von Friedrich Barbarossa entmachtet werden müssen wegen seines ehrverletzenden Handelns gegen die kaiserliche Majestät.113
Die chronologischen Sprünge bei Spalatin haben allerdings eine didaktische Funktion. Egal zu welchen Zeiten die Welfen betrachtet werden, zeigen sich dieselben Eigenschaften. Sie seien wortbrüchig, aufrührerisch, rebellisch und stellten sich gegen die gesatzte Ordnung. Zudem seien sie keine Sachsen und demzufolge nicht Teil der erfolgreichen Geschichte, sondern Schwaben oder Bayern. Hier erscheinen regionale oder territoriale Vorbehalte die Oberhand zu gewinnen. Denn gleich darauf befragt Spalatin wiederum das Verhalten der Welfen seit den Zeiten Karls des Großen und geht damit in der Chronologie wieder zurück. Dunkel sei die Herkunft der Welfen. Sie sollten wohl Herzöge von Bayern gewesen sein, ohne dass Namen und oder Jahreszahlen überliefert seien.114 Erst unter Kaiser Heinrich IV. seien sie in der Überlieferung greifbar. Hier dynamisiert Spalatin die Argumentation und wird schärfer in der Wortwahl. Bisher verblieb er auf einer sachlichen Ebene und belegt seine Äußerungen überprüfbar, ohne dabei auf intelligent formulierte Kritiken zu verzichten. Sie seien eben Schwaben oder Bayern. Zudem sieht er einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Entmachtung Heinrichs des Stolzen und dessen Todesursache: „Do Hertzog Heinrich … des Landes Baiern entsetzt … were er zu fus … geflohen …. Vnd das nehest jar darnach / gestorben.“ 115 Dieses unritterliche Verhalten belege sehr deutlich, dass diese Dynastie nicht edler und rumreicher Herkunft sein könne. Nach dem Verlust der Lehen in Bayern und Sachsen seien sie auf Braunschweig beschränkt worden. Demgegenüber konstruierten sie in ihrer hauseigenen Historiographie – „in Sechssischer sprach … [die] so vnrichtig/ vnd irrig ist“ – ihre eigene Geschichte, der der gebildete Leser einfach nicht folgen könne.116
Spalatin referiert nun wiederholt alle bereits mehrfach aufgeführten Verfehlungen Heinrichs des Löwen, des Sohnes des ebenfalls aufrührerischen Heinrichs des Stolzen. Selbst der Sohn des Löwen, Otto IV. aus dem Hause Braunschweig, habe sich gegen den rechtmäßigen staufischen Herrscher Philipp erhoben, das Papsttum geblendet und sich die Kaiserkrone erschlichen. Doch Papst Innozenz III. habe seinen Fehler erkannt und ihn gebannt.117 Erst durch die Gnade Kaiser Friedrichs II. hätten die Welfen unter Otto mit dem wertenden Beinamen das Kind das Herzogtum Braunschweig erhalten – also wieder eine bewusste Reduktion auf den Raum und keine lang zurückreichende Verankerung in Gesamtsachsen. So sollten es die Leser wohl verstehen. Die herabsetzende Charakterisierung behält Spalatin bei der Auflistung der Nachfahren bei: Es folgen Herzog Albrecht der Feiste oder Fette und Herzog Heinrich der Wunderliche.118 Spalatin zieht hieraus den logischen Schluss wiederum nach der scholastischen Methode, dass Herzog Heinrich der Jüngere von Braunschweig keine ältere und ehrwürdigere Herkunft als Sachse haben könne. Dessen Invektive von 1541 gegen den ehrwürdigen und edleren Kurfürsten Johann Friedrich I. von Sachsen entbehre jeglicher Grundlage und er habe sie ad absurdum geführt mit seiner nachvollziehbaren und mit Quellen belegten Argumentation. Er beendet den Abschnitt mit einem moralischen Appell: „Was huelffs doch den Menschen/ wenn er gleich die gantze Welt gewoenne/ vnd neme doch schaden an seiner Seelen.“ 119
Nach jeder klassisch-scholastischen lectio folgt eine conclusio, so auch bei Spalatin. Er habe aus zahlreichen lateinischen und auch deutschsprachigen Chroniken eindeutig das ältere, ehrbarere Herkommen der Wettiner, zutiefst in und mit Sachsen verbunden, nachweisen können. Jeder die Wahrheit liebende und intelligente Mensch müsse dies erkennen, so Spalatin. Alle Invektiven des Welfen Heinrich von Braunschweig seien „liederlich vnd leichtlich ermessen“.120
Die 1541 in Wittenberg gedruckte Schrift wurde wie erwähnt 1553 mit einem Vorwort von Philipp Melanchthon versehen erneut publiziert. Darin benutzt Melanchthon die Parabel von der guten und schlechten Regentschaft und geht nicht auf die Auseinandersetzungen der Wettiner mit den Welfen oder umgekehrt ein. Vielmehr hebt er hervor, dass glückliche und erfolgreiche Regenten einzig und allein von der göttlichen Gnade abhängen, von Gott geprüft und dann belohnt werden. Stolze, mutwillig zerstörerische und tyrannische Herrscher hingegen „treiben Abgoetterey/ zeuberey/ vnzucht/ rawben/ schinden vnd morden/ vnd verleumen die Gericht“.121 Melanchthon greift hier zielgerichtet die Argumente Spalatins auf, wiederholt sie und diffamiert ohne direkte Benennung die Welfen und auch die Lauenburger. Es handelt sich um eine weitere Eskalation in den Invektiven seit 1423 und vor allem um die Jahre um 1540. Im weiteren Verlauf seiner Vorrede konzentriert sich Melanchthon auf die Hervorhebung der christlich wertvoll geprägten Handlungen von Königen und Fürsten unter Zitation zahlreicher Bibelstellen. Denn nur gerechte Regenten garantieren Recht, Zucht, Frieden und Schutz, weil sie unter göttlicher Gnade stehen.122 Die ungehorsamen Herrscher bestrafe er, z. B. bei Ehebruch.123 Damit verweist Melanchthon ohne namentlichen Bezug auf Herzog Heinrich den Jüngeren von Braunschweig. Seit über 550 Jahren, so endet er, herrschen unter göttlicher Führung erfolgreich die Wettiner. Dies könne in diesem gelehrten Buch nachgelesen werden.124 Damit gibt Melanchthon für den zeitgenössischen Leser auch den Grund für die Neuauflage an, denn 1547 wurde der albertinischen Linie die Kurwürde übertragen und ihre Angehörigen mussten sich mit neuorientierter dynastischer Geschichtsschreibung legitimieren.125
Georg Spalatin schrieb im Jahre 1541 seine Chronik über das edlere und ältere Herkommen der sächsischen Kurfürsten aus dem Hause Wettin als Antwort auf die Invektiven des welfischen Herzogs Heinrich des Jüngeren von Braunschweig. Diese Schrift war ein Auftragswerk seines Landesherren Kurfürst Johann Friedrich I. von Sachsen. Es stellt eine sachliche und genealogisch vorgehende Antwort dar, quellengebunden und überprüfbar. Nur im letzten Teil seiner Abhandlung überwiegen die mit negativ wertenden Attributen versehenen Aussagen. Er bedient sich einer feinzüngigen und spitz formulierten Argumentation. Klassische Humanisten könnten dem Text folgen, weniger gebildete Leser, die sich nur der deutschen Sprache bedienen, würden ihn wohl nicht verstehen. So ist Spalatins Abhandlung zu interpretieren. Dazu bedarf es keiner obszönen Worte, um die Invektive zielgerichtet zu platzieren. Nach klassisch-scholastischer Methode führt er die Rezipienten zu der Erkenntnis, die er auch schon im Titel vorwegnimmt, dass die edlere und ältere Herkunft den Sachsen zukommt. Indem er sich des Druckmediums bediente, erreichte er eine große Öffentlichkeit. Spalatin nutzte gezielt das geschliffene Wort als Waffe im Streit mit Herzog Heinrich von Braunschweig. Dadurch wurde der konfessionell-politische Gegner herabgesetzt.
Spalatin konnte den Auftrag seines Landesherren schnell erfüllen, denn er verfügte über ein sehr großes Reservoir an genealogischen und historiographischen Quellen. Bereits seit 1510 schrieb er an einer großformatigen und reichlich illustrierten Chronik der Sachsen und Thüringer, wobei der vierte und letzte Band unvollendet blieb. Eng vernetzt mit Humanisten und mit ihnen im ständigen Austausch stehend, arbeitete er unermüdlich daran. Im Kern all seiner historiographischen Arbeiten wollte er nachweisen, dass die Wettiner von edlem Geblüt und zur Herrschaft in Sachsen auserwählt waren. Der Makel des Kaufs der Kurwürde 1423 sollte widerlegt werden. Die Dynastie sah sich immer mit Anfeindungen bezüglich der Herkunft und Idoneität konfrontiert, sei es durch die Askanier oder die Welfen. Sie wollten und mussten ihre Verankerung in der Region immer wieder unter Beweis stellen. Persönliche Stellungnahmen und Auseinandersetzungen vor dem Reichskammergericht gegen die lauenburgische Linie der Askanier eskalierten durch die Invektiven des Welfen aus Braunschweig, die Kurfürst Johann Friedrich I. hingegen immer wieder parierte. Auf einer sachlich-argumentativen Ebene sollte Spalaltins Chronik von 1541 die öffentlich ausgetragene Debatte beenden. Dies ist aber nicht gelungen. Der kontroverse Diskurs ging weiter und wurde mit Melanchthons Vorwort erneut aufgegriffen, aber ebenfalls nicht endgültig zum Abschluss gebracht. Bis zum Aussterben der Lauenburger 1689 gab es immer wieder Anfeindungen hinsichtlich der Übertragung der sächsischen Kurstimme auf die Wettiner. Die Invektiven von 1541 stellen aber einen Höhepunkt in der mehrere Jahrhunderte umfassenden Kontroverse dar. Sie wurden fortgeführt und letztlich erst mit der allgemein akzeptierten, von Otto Posse erstellten Stammtafel des Hauses Wettin 1897 beendet.126
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Reinhardt Butz
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