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Agonale Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung im italienischen und deutschen Humanismus
17 Sep 2021
Einleitung
Zusammenfassung
Die Publikation geht unter Berücksichtigung von theoretischen Überlegungen des Dresdner Sonderforschungsbereichs 1285 den invektiven Kommunikationsformen im italienischen und deutschen Humanismus nach. Sie verfolgt Fragen, welche Funktion die humanistischen Invektiven im Hinblick auf Gruppenbildungsprozesse hatten, wie sie Grenzen von Kommunikation verschoben und in welcher Weise sie auf die frühen reformatorischen Auseinandersetzungen Einfluss nahmen.
Mit Hilfe einer an der Antike geschulten Oratorik perfektionierten die Humanisten ihre sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten zwischen (inszenierter) Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Ihre rhetorische Virtuosität gestattete es ihnen, sich nach außen sichtbar als eigene Gruppe zu konstituieren und Konflikte untereinander in elaborierter Form auszutragen. Der Band zeigt auf, wie mit Invektiven Macht- und Geltungskonkurrenzen ausgefochten wurden und sich soziale Gruppen durch In- und Exklusionsmechanismen formierten. Es wird auch das Spannungsverhältnis zwischen der durch Invektiven dynamisierten inneren Konkurrenz unter den Humanisten und der Abgrenzung der Gesamtgruppe nach ‚außen‘, gegenüber den ‚Nichthumanisten‘, thematisiert. Hier wird zum einen nach der Bedeutung des Invektiven für das dahinter zu erkennende Bemühen um die Durchsetzung einer neuen Bildungsbewegung durch Diskreditierung der alten gefragt: Wer dem Neuen nicht folgen wollte oder konnte, wurde mit beißendem Spott überzogen. Auf der anderen Seite zeugt die Bereitschaft, eine Invektive zu adressieren bzw. sie zu beantworten, von der Zubilligung gegenseitiger Satisfaktionsfähigkeit. Insofern wird berücksichtigt, inwiefern Invektivität zur Einhegung von Konflikten auf dem diskursiven Feld und zur sozialen Integration der ‚Humanistengemeinschaft‘ insgesamt beitrug.
Die Frage nach einer Regelhaftigkeit im Ablauf von Schmährededuellen verweist auf kulturelle Modelle aus anderen agonalen Arenen der Zeit: Inwiefern wurde mit Invektiven ein kompetitives Kräftemessen ausgetragen, wie es etwa auch beim Wett­bewerb im Rahmen der Kunstpatronage zu beobachten ist? Auch bei dieser Praktik kam es in der Renaissance regelmäßig zu persönlichen Entehrungen, Schmähungen und Herabwürdigungen der Gegner. Es wird in dem Band auch danach gefragt, inwiefern Konkurrenzen um einflussreiche Positionen unter den italienischen Humanisten in der ersten Hochphase des Humanismus zum wechselseitigen Austausch von Invektiven führten, die zugleich eine gruppendynamische Funktion hatten. In diesem Kontext sind mit Rekurs auf antike Vorbilder mustergültige Textformen gefunden worden, die große Wirkung auf Literaten auch außerhalb Italiens hatten. Bei der in diesem Band vorgenommenen Zusammenschau von italienischem und deutschem ­Humanismus können Konjunkturen und Diffusionsformen des Invektiven erkannt und aufgezeigt werden, in welchem Verhältnis seine Formen, Konstellationen und Funktionen zu den jeweiligen kulturellen Milieus standen.
Forschungsstand
Die Forschung widmete den humanistischen Invektiven lange keine besondere Aufmerksamkeit. Erst in jüngerer Zeit ist ein gesteigertes Interesse an den gelehrten Auseinandersetzungen der Humanisten erkennbar. Gerade diese Perspektive verspricht neue Erkenntnisse in Bezug auf den Humanismus und seine Zirkel.1 Es fehlen trotz einer Reihe von Einzelversuchen für eine neue Monographie noch an Detailstudien, um damit einen systematischen Zugang in das weite Feld der humanistischen Invektive zu ermöglichen.2
Dass es auch im Mittelalter invektive Textsorten gab, hat die Forschung bereits herausgearbeitet.3 Die mittelalterlichen Schmähbriefe und Schandbilder gehören zwar auch in das erweiterte Themenspektrum, doch sollen sie hier hinsichtlich ihrer Form und Funktion nur am Rande interessieren.4 Die Frage, ob sich unmittelbare Kontinuitäten zur Renaissance nachzeichnen lassen, beziehungsweise die Humanisten sich diese Vorbilder zu eigen machten, muss aufgrund der „Frequenz, Intensität und Typik“ der humanistischen Invektiven eher verneint werden.5 Das zeigen auch zwei ältere Monographien: Auf der einen Seite das frühe Werk von Charles Nisard, der bereits im Jahre 1860 eine Abhandlung zu wenigen einschlägigen Autoren aus Italien, Frankreich und Deutschland vor allem des 16. und 17. Jahrhunderts vorlegte,6 auf der anderen der Versuch Felice Vismaras, der einen Überblick über wichtige italienische Invektiven bieten wollte.7 Wesentlich später widmete sich Pier Giorgio Ricci der Frage nach der Tradition der Invektive zwischen Mittelalter und Humanismus,8 bevor Ennio Rao nach einer knappen Reflexion über die humanistische Invektive als literarische Gattung 9 eine Monographie über die von 1352–1453 in Italien geführten Streitreden vorlegte.10 Einen Überblick zu diesen wie weiteren bekannten Invektiven aus dem 15. Jahrhundert bietet auch der tabellarische Katalog mit über 140 Textzeugen aus dem ‚Atlante della letteratura italiana‘ 11 sowie ein kurzer Aufsatz von Claudio Griggio, der die Tradition dieser von Petrarca bis Poliziano verfassten Invektiven abhandelt.12
Während der humanistische Dialog bereits als performatives Gestaltungsmedium des soziokulturellen Milieus der Humanisten gewürdigt wurde,13 wollte die Schmährede offenbar nicht so recht in das hehre Bild passen, das man sich von einer auf Klassiker rekurrierenden Bildungsbewegung machte, und wurde lange vernachlässigt.14 Auch wenn sie nicht in das moralische und pädagogische Ideal des Humanismus zu passen scheint, ist die Invektive während des 15. Jahrhunderts doch ein Markenzeichen des Humanismus in Italien und später darüber hinaus in ganz Europa.15 Die humanistischen Bildungs-Systeme und Kontexte erregten bereits im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die Aufmerksamkeit der Wissenschaft, z. B. bei Sabbadini und Fioretto 16 ; seit der Veröffentlichung der Werke von Ronald Witt und Robert Black haben die damit zusammenhängenden Fragestellungen eine neue Dringlichkeit erhalten, wobei insbesondere literarische Entwicklungen interessierten.17
Durch das gewachsene Interesse an einer Kulturgeschichte verbaler Gewalt 18 kam es in der Renaissanceforschung zu einer Reihe von Untersuchungen zum Phänomen der sprachlichen Herabsetzungen. Seit den 1980er Jahren erschienen einige exemplarische Untersuchungen, die sich diesem Thema allerdings ebenfalls eher mit einem philologischen Zugang annäherten.19 Abgesehen von den ‚Dunkelmännerbriefen‘ 20 gerieten die Invektiven des nordalpinen Humanismus erst deutlich später in den Fokus.21 Nachdem die humanistische Elitenbildung südlich der Alpen zur Konstituierung von Akademien,22 nördlich der Alpen seit der Wende zum 16. Jahrhundert vermehrt zu Sodalitäten führte,23 versuchte man den elaborierten Schlagabtausch in Schmährededuellen vornehmlich aus dem Freundschaftsdiskurs heraus zu erklären,24 was für sich allein unbefriedigend ist.
In Bezug auf die Oratorik 25 wurden aus philologischer 26 und auch historischer Perspektive 27 jüngst spannende Erkenntnisse gewonnen, die unser Thema bereichern. Die Korrelation zwischen den Modi der gegenseitigen Schmähung und Herabsetzung und der Konsistenz des Humanismus selbst scheint in der jüngeren Forschung zwar erkannt worden zu sein. Beispielsweise ist das in den Publikationen der Bonner Forschungsgruppe „Traditionen okzidentaler Streitkultur. Formen, Sphären und Funktionen öffentlichen Streits“ zu sehen, die allerdings mit den Begriffen ‚Streitkultur‘ 28 und ‚Polemik‘ 29 operieren, oder bei Versuchen, die das Feld von seiner emotionalen Seite her angehen.30
Demgegenüber versucht das hier vorgestellte Konzept der Invektivität theoretische Grauzonen und terminologische Unschärfen zu beseitigen, indem es alle Kommunikationsformen und Phänomene, die das Potential der Herabsetzung oder Schmähung in sich bergen, in einen gemeinsamen analytischen Horizont rückt und in ihrer Gesamtheit abzubilden sucht.31 Im weiteren sollen neue Ansätze dieses ­Konzeptes zur Anwendung kommen und gleichzeitig der Bedeutung von Agonalität und Ritualität streithafter Auseinandersetzungen32 für die dynamischen Gruppenbildungsprozesse der Humanisten Aufmerksamkeit geschenkt werden, was in Weiterführung von Untersuchungen gesehen werden kann, die die Bedeutung kompetitiver Praktiken für die soziale Gruppenbildung bereits aufzeigten.33
Invektivität
Invektivität soll jene Aspekte von Kommunikation (verbal oder nonverbal, gestisch oder bildlich) fokussieren, die dazu geeignet sind, herabzusetzen, zu verletzen oder auszugrenzen.34
‚Invektivität‘ kann für alle Formen von Beleidigung und Schmähung bis hin zu den Mikroaggressionen des Alltags stehen. Die gemeinsame Eigenschaft oder den Modus dieser lebensweltlichen Phänomene bezeichnen wir in diesem Kontext als ‚das Invektive‘, ein einzelnes Kommunikationsereignis als ‚eine Invektive‘. Invektiven destruieren oder produzieren, dynamisieren oder eskalieren soziale Verhältnisse.35 Das ‚Spiel‘ von Schmähung, Provokation und Ehrverteidigung wird oft als Attribut der vormodernen Anwesenheitsgesellschaft ausgemacht,36 die wechselseitige Herabwürdigung des Gegners hatte dann in den reformatorischen Auseinandersetzungen eine durch Druckmedien in die breitere Öffentlichkeit getragene Hochphase.37
Jeder als herabsetzend intendierte oder wahrgenommene Akt erhält seine invektive Qualität unter den Bedingungen der Situation, die ihn ermöglicht und hervorbringt. Die Konstellationsanalytik nimmt ihren Ausgang in einer Differenzierung der jeweils konkreten Konstellationen der Akteure und ihrer sequenziellen Dynamiken. Idealtypischer Ausgangspunkt ist aus interaktionstheoretischer Sicht die invektive Triade mit den Positionen Invektierer, Invektierter und ‚Publikum‘.38 Der kommunikative Erfolg von Invektiven hängt demnach davon ab, inwiefern sie vom Adressaten und / oder dem Publikum 39 als verletzend aufgefasst werden.40 Das ‚Publikum‘ ist als ‚Figur des Dritten‘ konstitutiver Bestandteil der invektiven Triade bzw. der invektiven Kommunikationssituation. Weiterhin bildet es in Korrelation zu ‚Öffentlichkeit‘ und ‚Arena‘, im Sinne einer räumlich-zeitlichen Verortung der Triade, den Resonanzraum der Invektiven ab, der sich durch Anschlusskommunikation, Medialität und öffentliche Meinung in ständiger Dynamik befindet. Unter dem Terminus ‚Arena‘ ist ein Kommunikationsraum mit individuellen materiellen und sozialen Settings zu verstehen.41 Besonders sind dabei „Grade von Formalität bzw. Informalität in Rechnung zu stellen“.42 Hochgradig formalisierte Räume können attraktiv für tabubrechende Symbolhandlungen werden.43 Daneben sind unterschiedliche Schwellen- und Zugangsbedingungen oder Lizenzen zu erwarten, die sowohl erteilt als auch verwehrt werden können.44 So spielen in diesen Schlagabtauschen häufig auch die Satisfaktionsfähigkeit und die Qualifiziertheit des Publikums eine Rolle.
„Die ‚Inszenierung‘ der Invektive umfasst mithin zwei Aspekte: … die literarische Form des Streitens“ und „ein Publikum … vor dem und für das sich die Streitenden in Szene setzen … So stehen hier die Strategien zur Gewinnung des Dritten, seine Involvierung in den Streit sowie die Funktionalisierung literarischer Texte im Kontext von sozialen Formierungsprozessen im Zentrum.“45
Angesichts dieser Aspekte ist es möglich, noch einen weiteren Faktor in Betracht zu ziehen: die Darstellung spezifischer Feindbildungen, die immer auch eine soziale Funktion und Auswirkung hatten. Die Darstellung des Gegners hat nicht nur die Funktion, die Gegenpartei zu disqualifizieren, sondern soll auch der eigenen Gruppe ihre jeweilige Situation plausibel machen. Daraus folgt ein performatives Potential der Invektiven.46 Die Normalisierung der Darstellung des Gegners unter negativen Werten legt innerhalb einer als dysfunktional inszenierten Wirklichkeit seine Benennung als Feind nahe, was aber auch eine sozialstabilisierende Funktion haben kann, wenn sie zum Festhalten am Überkommenen motiviert.47
Agonalität. Eruditio, Latinitas
Die erste und wichtigste Manifestation der humanistischen Natur ist das glühende Verlangen nach Kontroversen: die Lieblingswaffe ist die Beschimpfung, derer sie [die Humanisten] sich oft sogar als Hauptmittel bedienen, um ihre Gelehrsamkeit zu zeigen.48
Bei den Gruppenbildungen kam der latinitas in den Invektiven eine distinktive Kraft zu.49 Gelehrsamkeit, Kompetenzen in der Literatur und Sprache des Altertums, die Fähigkeit, in der Art der Alten zu schreiben sind wesentliche humanistische Werte und Voraussetzungen für das Erreichen des Humanistenstatus. Hauptziele der Humanisten waren die fama und die gloria aeterna als Dichter oder Redner, als quintilianischer vir bonus dicendique peritus, deren Kultur und Ausbildung basierend auf den studia humanitatis meist nicht als Selbtzweck gedacht, sondern auch ad communem (oder publicam) utilitatem gerichtet war. Ungelehrt zu sein bedeutete unwürdig zu sein – als Mensch, als Bürger oder um ein offizielles Amt zu erlangen. Latinität wird zum palladium und zur „ontischen Kernqualifikation jedes Humanisten“.50 Die Invektive ermöglichte es den Humanisten, sich durch die Zurschaustellung der Gelehrsamkeit darzustellen und zu inszenieren, um Reputation für sich selbst in der eigenen Gemeinschaft zu erlangen. Deswegen war es unvermeidlich, eigene Gelehrsamkeit zu zeigen, auch wenn das Hauptziel einer Invektive vielleicht ein anderes war. Diese intellektuelle Tendenz wird durch den Terminus des self-fashioning treffend beschrieben.51
Die Humanisten pflegten nicht nur gemeinsame Ideale und Bestrebungen, sondern konkurrierten auch häufig auf einem relativ engen professionellen ‚Markt‘. In diesem Zusammenhang war die Kompetenz in der lateinischen Grammatik und im lateinischen Stil, die Beherrschung der korrekten Normen und Standards der Latinität immer der überzeugendste Beweis für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Humanisten.52 Die perfekte Beherrschung der Regeln und Prinzipien der lateinischen Grammatik und des Stils war die Grundlage, auf der nicht nur das gesamte Programm des Humanismus aufgebaut war, sondern auch die agonale Konkurrenz als typische Handlung der humanistischen intellektuellen Gemeinschaft.53
Eruditio und latinitas bildeten das Fundament des wettbewerblichen und kompetitiven Charakters der humanistischen Invektiven. Schon Jacob Burckhardt erklärte die Invektive der italienischen Humanisten zum Inbegriff für das ‚ausgebildete Individuum‘ und sprach von ihrem agonalen Charakter bei den gelehrten Konkurrenzkämpfen im Humanistenmilieu.54 Die Invektiven unter den Humanisten gehörten zu den wettbewerblichen Vergleichsmedien, die sich auch im paragone der Gelehrten nach dem Muster des imitariaemularisuperare realisierten.55
Invektive Kommunikationsformen
Tatsächlich hatte der direkte persönliche Angriff mit dem Ziel der Herabsetzung und Verächtlichmachung des Gegenübers einen festen Platz im System der antiken Rhetorik, und zwar vor allem in der Gestalt der Tadel- oder Scheltrede (ψόγος / vituperatio), die beinahe ausschließlich als Gegenstück zur Lobrede (ἔπαινος / laus) gesehen wurde.56 Schon in der Antike wurde versucht, ihre Funktion moralisch zu verbrämen, worin man einen apologetischen Reflex sehen kann, weil Beleidigungen und Schmähungen eigentlich gesellschaftlich geächtet und zum Teil auch juristisch verfolgbar waren.57
Unter einer Invektive wird im Weiteren durchaus mehr als nur der einmalige kommunikative Vorgang einer Beleidigung oder die aus der Antike überlieferte literarische Gattung der invectiva oratio verstanden,58 obwohl dieses Genre gerade im Humanismus wiederentdeckt wurde.59 In welchen kommunikativen Formen und Mustern realisierte sich nun Invektivität? Einige rhetorische und literarische Gattungen sind einschlägig: 60 Invektive, Polemik, Satire, Pasquill, Dialog, Witz etc.61 Für die Frage nach der Formenvielfalt und -geschichte der Invektiven ist jedoch zu berücksichtigen, dass auch andere Gattungen invektiv aufgeladen bzw. über bestimmte Verfahren (Parodie, Persiflage, Travestie) invektiv transformiert werden können. Für deren poetologische Beschreibung bedarf es eines flexibleren Konzeptes.
„Auf pragmatischer Ebene verbindet die unterschiedlichen Erscheinungsformen des ‚Invektiven‘ eine gemeinsame Modalität sozialer Interaktion und Kommunikation. Diese Modalität wird beispielsweise durch den Gebrauch von Schimpf- und Fluchphrasen, pejorativen Ausdrücken, Generalisierungen, Verabsolutierungen, Hyperbeln, Superlativen, Vorwurfsintonationen etc. kontextualisiert.“ 62
Im weiteren sollen aber auch Phänomene in die Analysen miteinbezogen werden, die sich einer solch klaren formalen Zuordnung entziehen und ihren invektiven Charakter erst durch subtile Kontextualisierung, durch Anschlusskommunikation oder durch Interpretation Dritter erhalten.63 Bewusst wird dadurch die Semantik der invectiva oratio 64 als intentionaler und artifizieller Schmährede überschritten und weitere rhetorische Gattungen wie etwa Polemik, Satire, Parodie oder Karikatur miteinbezogen. Die Bandbreite des invektiven Spracharsenals der Humanisten wirkt aus heutiger Sicht befremdlich, denn Paranomasien, Tiervergleiche oder Sexual- und Fäkalsprache galten in der humanistischen Disputation als „polemischer Standard“. Weit verbreitet war auch der verbale Pleonasmus, der sich oft in einer asyndetischen Aneinanderreihung unzähliger malediktischer Adjektive realisiert.65
Invektive Kommunikation vollzieht sich auf unterschiedlichen medialen Ebenen und in konkreten historischen Konstellationen. Etablierte invektive Gattungen fungieren als Formenarchive, die Muster der Herabsetzung für den gesellschaftlichen Kommunikationshaushalt verfügbar halten. Für die Beschreibung der unterschiedlichen Austausch- und Transformationsprozesse erscheint der Begriff der ‚kommunikativen Gattung‘ geeignet, da sie die Aspekte der kommunikativen Situation, den sozialen Kontext und die sprachliche Form zusammenführt.
Gruppendynamik
Beobachtungen hinsichtlich der italienischen Humanisten des Quattrocento legen nahe, dass diese mittels eines intensiven Invektivengebrauchs Ziele der sozialen Positionierung verfolgten.66 So geht es bei Invektivketten, wie etwa Schmährededuellen, nicht nur um Gesichtswahrung 67 und Positionierung in der Res publica literaria, sondern auch um die Zuweisung von Sozialpositionen, wobei Vermittler oder Schiedsrichter wichtig werden konnten.68 Dies wird vor allem an der Textdistribution deutlich, die selten unmittelbar an den Gegner erfolgte, sondern oft über Dritte weitergereicht wurde.69
Die Invektive erweist sich als wichtiger Faktor auch bei der Formierung kollektiver Identitäten. Rhetorische Virtuosität bei Invektiven gestattete es den Humanisten, sich nach außen hin sichtbar als eigene Gruppe zu konstituieren und Konflikte untereinander in elaborierter Form auszutragen.70 Es wird im Weiteren versucht, die folgende These zu stützen: Es war gerade das Medium der Invektive, das Gruppenbildungsprozesse anregte und zu den weitverzweigten Zirkeln, Sodalitäten und Akademien der neuen Bewegung des Humanismus führte.71
Dabei wird insbesondere das Spannungsverhältnis der durch Invektiven dynamisierten inneren Konkurrenz unter den Humanisten und der Abgrenzung der Gesamtgruppe nach ‚außen‘, gegenüber den ‚Nichthumanisten‘ zu analysieren sein.72 Es gilt zu untersuchen, inwiefern Konkurrenzen um einflussreiche Positionen unter den Humanisten in der ersten Hochphase des Humanismus zum wechselseitigen Austausch von Invektiven führten, die zugleich eine gruppendynamische Funktion hatten.
Einleitung
Uwe IsraelMarius KrausLudovica Sasso
Zusammenfassung
Forschungsstand
Invektivität
Agonalität. Eruditio, Latinitas
Invektive Kommunikationsformen
Gruppendynamik