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»... der Augenblick ist mein und nehm ich den in Acht« Daseinsthemen und Lebenskontexte alter Menschen
15 Apr 2022
Kapitel VII: Schmerzempfinden und Schmerzverarbeitung
Zusammenfassung Gegenstand des Kapitels sind die subjektive Bedeutung von Schmerzen sowie Merkmale des Schmerzerlebens und deren Zusammenhänge mit der psychischen Situation bei alten Menschen. Für 260 der 400 Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Alter von 75 bis 95 Jahren erwiesen sich Schmerzen im Interview als ein Daseinsthema von mittlerer oder großer Bedeutung. Die für diese erstellten Schmerzprotokolle ergaben keine statistisch bedeutsamen Korrelationen zwischen der Häufigkeit und Intensität von Schmerzen und den mithilfe psychometrischer Verfahren erhobenen zehn Merkmalen der psychischen Situation. Für das Ausmaß der Schmerzkontrolle ergaben sich hingegen (hoch-)bedeutsame Zusammenhänge zu Optimismus, Kohärenzgefühl, wahrgenommenen Entwicklungsgewinnen und Lebenszufriedenheit. Die Ergebnisse legen nahe, dass (a) Schmerztherapien im Alter weiterhin noch nicht genügend zum Einsatz gelangen oder noch nicht ausreichend erfolgreich sind, (b) das Schmerzerleben in eine körperliche, psychische und sozialkulturelle Gesamtsituation eingebettet ist, die einerseits Zusammenhänge zwischen Schmerzen und Merkmalen der psychischen Situation moderiert, andererseits auch unabhängig vom Schmerzerleben die psychische Situation beeinflusst. Vor diesem Hintergrund sind eine differenzierte Schmerzdiagnostik und eine an individuellen Bedarfen und Bedürfnissen ausgerichtete Schmerztherapie wichtige Ansatzpunkte für die gesundheitliche Versorgung im Alter.
Schlagwörter Chronische Schmerzen, Prävention im Alter, psychische Situation im Alter, Schmerzerleben, Schmerztherapie
Abstract Objects of interest are the subjective importance of pain together with characteristics of pain experience and its interrelationship with the psychological situation of old people. For almost two thirds of participants, 260 of the 400 between the ages of 75 and 95, pain turned out to be an issue of medium or great importance in the interviews. The detailed pain protocols created for these individuals did not reveal any statistically significant correlations between the frequency and intensity of pain and the ten characteristics of the psychological situation that were operationalized by psychometric scales. Concerning the extent of pain control, there were (highly) significant correlations to optimism, a sense of coherence, perceived developmental gains and life satisfaction. The results suggest that (a) pain therapies in old age are still not sufficiently successful, (b) the experience of pain is embedded in an overall physical, psychological and socio-cultural situation that on the one hand moderates the relationship between pain and characteristics of the psychological situation, and on the other hand influences the psychological situation independently of pain experience. Against this background, differentiated pain diagnostics and pain therapy tailored to individual needs and preferences are important starting points for health promotion and preventive care in old age.
Keywords Chronic pain, pain experience, pain therapy, prevention in old age, psychological situation in old age
Schmerzen sind im Alter ein zentrales Thema.1 Repräsentative Studien zeigen, dass in der Gesamtbevölkerung bis zu 30 % der Menschen an chronischem Schmerz leiden.2 Berichten der Krankenkassen zufolge gibt es deutlich mehr Frauen als Männer mit einer Schmerzdiagnose, und insgesamt steigt die Prävalenz der dokumentierten Schmerzdiagnosen mit dem Alter deutlich an – im Jahr 2014 waren z. B. von den über 80-Jährigen 13,2 % von einer Schmerzdiagnose ohne direkten Bezug auf ein bestimmtes Organ betroffen, von den über 90-Jährigen 14,7 %; dabei lag der Bundesdurchschnitt bei 4,0 %.3 Die Prävalenz der selbst angegebenen Schmerzen muss dabei als deutlich höher eingeschätzt werden als die der dokumentierten Diagnosen. Geriater sprechen hier von 50–75 % der über 65-Jährigen, die unter Schmerzen leiden; 4 eine bevölkerungsbezogene Studie in Deutschland zeigte, dass 31 % der über 65-Jährigen unter mäßigen bis sehr starken Schmerzen litten, im Vergleich zu 16 % in der Altersgruppe der 45- bis 65-Jährigen.5
Dabei ist die Schmerztherapie im Alter häufig erschwert durch das Vorhandensein von anderen Symptomen und Erkrankungen. Eine medikamentöse Behandlung des Schmerzes muss deshalb meistens mit anderen Medikamenten abgestimmt werden. Auch kann es vorkommen, dass alte Menschen nicht direkt und offen ihre Schmerzen kommunizieren. Einige halten diese für einen Teil des Alterungsprozesses und sprechen die Schmerzproblematik bei ihrem Hausarzt nicht an. Andere wieder befürchten, dass Schmerzen erste Anzeichen einer Tumorerkrankung sein könnten und zögern deshalb eine Diagnostik hinaus. Weitere Probleme bei der Schmerzdiagnostik ergeben sich, wenn die Betroffenen kognitiv eingeschränkt bzw. demenzkrank sind. Doch selbst wenn Schmerzen angemessen diagnostiziert werden, führt eine Schmerztherapie nicht unbedingt zu Schmerzfreiheit. Hier wird z. B. von Orthopäden betont, dass das Therapieziel „Schmerzfreiheit“ nicht immer realistisch sei. Die Medizin sei in der Lage, Symptome (auch erheblich) zu verbessern; häufig bleibe allerdings ein Restschmerz, den die Patientinnen und Patienten akzeptieren müssten.6
Was man weiß: Das Erleben von akutem oder chronischem Schmerz kann die Erlebnisqualität von allem anderen überschatten. Schmerzen sind in jedem Alter assoziiert mit einer niedrigeren Lebensqualität; anhaltender Schmerz kann zu körperlichem Schonverhalten, sozialem Rückzug, Erschöpfung bis hin zu psychischen Störungen führen.7
Das von Engel 8 eingeführte biopsychosoziale Modell wird inzwischen von vielen Schmerzforschern und Klinikern als ein hilfreiches Modell zum besseren Verständnis des komplexen Schmerzgeschehens akzeptiert. In diesem holistischen Schmerzmodell geht man davon aus, dass somatische, psychische und soziokulturelle Faktoren den Schmerz bzw. das Erleben des Schmerzes beeinflussen.9 Ein spezifisch für alte Menschen erweitertes biopsychosoziales Schmerzmodell lenkt zusätzlich den Blick auf den Umgang mit häufigen Komorbiditäten und Strategien zur Förderung der sozialen Integration.10 Inzwischen gibt es auch einige klinische Studien, die die Effekte von psychologischen Interventionen bei alten Menschen mit chronischen Schmerzen erfassten. Die metaanalytische Auswertung von 22 Studien zeigte hier, dass psychologische Interventionen kleine Effekte auf die Schmerzreduktion und Erhöhung der Selbstwirksamkeit erzielen können;11 dabei zeigten Interventionen, die als Gruppenprogramm durchgeführt wurden, die höchsten Erfolge, was wiederum das Thema der sozialen Integration in den Fokus rückt.
Da das Erleben von chronischen Schmerzen den Alltag und die Wahrnehmung im Alter sehr stark bestimmen kann, haben wir diesem Aspekt in der Studie „Altern in Balance“ ein eigenes Kapitel gewidmet. Nachfolgend wird ein Überblick über die Studienergebnisse zum Schmerzerleben und zu möglichen Zusammenhängen mit psychologischen Merkmalen gegeben. Dieser Überblick soll dazu dienen, das Verständnis des Schmerzerlebens im Alter weiter zu vertiefen; zudem soll er für die Notwendigkeit einer umfassend konzipierten Schmerztherapie auch für alte Menschen sensibilisieren.
VII.1 Stichprobe und Messinstrumente
Die Studie „Altern in Balance“ hat die Bedeutung des Schmerzes aus der Perspektive von N = 400 Teilnehmer*innen im Alter von 75 bis 95 Jahren untersucht. Das Interessante ist in diesem Kontext die Zusammenstellung der Stichprobe: Es wurde eine Gruppe von alten Menschen befragt, in der – im Vergleich zur altersgleichen Gesamtbevölkerung – Männer, Personen mit einem Pflegegrad ≥ 2 und Heimbewohner*innen überrepräsentiert sind. Gerade die Gruppen der Pflegebedürftigen und Heimbewohner*innen gehen häufig nicht oder nur in kleinen Stichproben in bevölkerungsbezogene Stichproben ein. Andererseits verzerren auch rein klinische Stichproben das Bild über die Gesundheit alter Menschen. Die Ergebnisse aus der hier gewählten Stichprobe können als aussagekräftig für das ganze Spektrum der alten Bevölkerungsgruppe angesehen werden, sie sind jedoch nicht als repräsentativ zu verstehen.
Es ist im Folgenden wichtig, zwischen dem Daseinsthema „Schmerz“ und der von den Studienteilnehmer*innen auf einer Visuellen Analogskala (VAS) eingeschätzten Intensität der Schmerzen („Bitte stufen Sie den stärksten Schmerz, den Sie in der letzten Woche erlebt haben, auf einer Skala von 0–10 ein“ 12) zu unterscheiden. Die folgenden Abschnitte changieren immer wieder zwischen dem Daseinsthema einerseits und der von den Studienteilnehmern*innen eingeschätzten Intensität bzw. Häufigkeit des Schmerzes andererseits. In der Gesamtstichprobe der N = 400 Frauen und Männer fanden sich N = 260 Personen (65 %), bei denen das Daseinsthema „Schmerz mit mittlerer oder hoher Bedeutung erkennbar war. Bei diesen N = 260 Personen wurde ein differenziertes Schmerzprotokoll erstellt, das sich um folgende vier Aspekte zentrierte: (1) Einschätzung der Intensität und der Häufigkeit des Schmerzes, (2) Darstellung der „inneren“ (kognitiven, emotionalen) Strategien und „äußeren“ Maßnahmen (Medikation, Physio-, Sport-, Bewegungs- und Psychotherapie, Schmerztagebuch) mit dem Ziel, die Schmerzen besser kontrollieren zu können, (3) Bewertung der ärztlichen Versorgung (wobei hier auch zwischen medikamentöser und nicht medikamentöser Intervention differenziert werden sollte), (4) Beschreibung der Schmerzentwicklung in den vergangenen Wochen und Monaten.
VII.2 Schmerz als bedeutsames Daseinsthema
In jenen Fällen, in denen die Untersuchungsteilnehmerinnen und -teilnehmer in ihrem spontanen Bericht über die gegenwärtige Situation wiederholt auf Schmerzen zu sprechen kamen, wurde explizit auf das Thema „Schmerz“ eingegangen und – nach Zustimmung durch die Teilnehmerin bzw. den Teilnehmer – ein umfangreicheres Schmerzprotokoll erhoben.
In N = 260 Fällen (65 %) konnten wir im Interviewverlauf Hinweise auf eine erkennbare subjektive Bedeutung von Schmerz finden (damit erfolgte die Einordnung von Schmerz als Daseinsthema). Die Interviewauswertung diente nun dazu, einzuschätzen, ob Schmerz ein Daseinsthema von mittlerer oder großer subjektiver Bedeutung bildete. In N = 144 Fällen (36 % von insgesamt 400 Fällen) bildete der Schmerz ein Daseinsthema von großer, in 116 Fällen (29 %) ein Daseinsthema von mittlerer Bedeutung.
Es wurde in dieser Teilstichprobe von N = 260 Personen zunächst untersucht, welcher Zusammenhang zwischen der mittelgradigen bzw. großen Bedeutung von Schmerzen im subjektiven Erleben einerseits und der auf der visuellen Analogskala eingeschätzten Intensität des Schmerzes andererseits gegeben war.
Tabelle VII.1 gibt Auskunft über diesen Zusammenhang. Die Skalenpunkte 0, 1 und 2 der visuellen Analogskala sind in der Teilstichprobe (N = 260) nicht besetzt, das heißt, keine bzw. keiner der Untersuchungsteilnehmerinnen und -teilnehmer, für die Schmerz ein Daseinsthema von mittlerer oder großer Bedeutung bildete, wählte einen der Skalenpunkte, die auf fehlenden oder (vergleichsweise) geringen Schmerz deuten.
Tabelle VII.1 Schmerzerleben und Intensität des Schmerzes
Intensität des Schmerzes (1–10)
Gesamt
3,00
4,00
5,00
6,00
7,00
8,00
9,00
10,00
Schmerzerleben als Daseinsthema
Mittlere Bedeutung
41
64
11
0
0
0
0
0
116
Hohe Bedeutung
0
0
69
29
18
14
8
6
144
Gesamt
41
64
80
29
18
14
8
6
260
Von jenen Untersuchungsteilnehmerinnen und -teilnehmern, für die Schmerz ein Daseinsthema mittlerer Bedeutung bildete (N = 116), stuften 41 (35,3 %) die Intensität der Schmerzen als eher gering bis mittel ein (Skalenpunkt 3) und 75 (64,7 %) als mittel bis eher hoch (Skalenpunkte 4 und 5). Skalenpunkte, die eine hohe oder extrem hohe Schmerzintensität widerspiegeln (6 bis 10), wurden in dieser Teilgruppe nicht gewählt.
In jener Teilgruppe, in der „Schmerz“ ein Daseinsthema von großer Bedeutung darstellte (N = 144), ergibt sich eine andere Verteilung. Hier setzten die ausgewählten Skalenpunkte nicht bei 3, sondern erst bei 5 ein (eher hohe Schmerzintensität) und reichten bis zum Skalenpunkt 10 (stärkster vorstellbarer Schmerz).
Zunächst ist hervorzuheben, dass in unserer Stichprobe die Anzahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die von einer sehr hohen (7) bis extrem hohen Schmerzintensität (10) berichteten, mit 46 von insgesamt 260 Personen (17,7 %) einen für die medizinische Versorgung bedeutsamen Anteil bilden.
Es wurde in den Interviews auch die Frage nach der Häufigkeit der Schmerzen gestellt. Die Untersuchungsteilnehmerinnen und -teilnehmer wurden gebeten, anzugeben, ob der Schmerz konstant, sehr oft, oft, häufiger oder selten auftrete. Tabelle VII.2 gibt über die Verteilung der unterschiedlichen Häufigkeiten des Auftretens von Schmerzen Auskunft. 40 von insgesamt 260 Personen (15,4 %) berichteten von konstant bestehenden Schmerzen.
Tabelle VII.2 Schmerzerleben und Häufigkeit des Schmerzes
Häufigkeit des Schmerzes
Konstant
Sehr oft
Oft
Häufiger
Selten
Gesamt
Schmerzerleben
Mittlere Bedeutung
12
15
33
38
18
116
Hohe Bedeutung
28
40
38
36
2
144
Gesamt
40
55
71
74
20
260
VII.3 Intensität und Häufigkeit von Schmerzen nach Altersgruppen
Die Mittelwerte (M) und Standardabweichungen (SD) der Intensität des Schmerzes (von 1: keine, sehr geringe Schmerzen, bis 10: extreme Schmerzen, stärkster vorstellbarer Schmerz), differenziert nach vier Altersgruppen (75–80; 81–85; 86–90; 91–95 Jahre), sind in Tabelle VII.3 aufgeführt.
Tabelle VII.3 Schmerzintensität in vier verschiedenen Altersgruppen
Alter in Jahren
N (%)
M
SD
75–80
52 (20,0)
5,5
2.19
81–85
78 (30,0)
4,7
1.30
86–90
67 (25,8)
4,9
1.73
91–95
63 (24,2)
5,5
1.40
Mit Blick auf die Schmerzintensität sind zwei statistisch signifikante Altersunterschiede erkennbar: Die Intensität der Schmerzen ist in der Gruppe der 75- bis 80-Jährigen signifikant höher als in der Gruppe der 81- bis 85-Jährigen (p < .04); sie ist in der Gruppe der 81- bis 85-Jährigen signifikant geringer als in der Gruppe der 91- bis 95-Jährigen (p < .02).
Die Häufigkeit des Auftretens von Schmerzen (1: selten; 2: häufiger; 3: oft; 4: sehr oft; 5: konstant) wurde ebenfalls nach Altersgruppen differenziert. Die Ergebnisse finden sich in nachfolgender Tabelle VII.4. Zwischen den Altersgruppen finden sich keine statistisch signifikanten Unterschiede in der Häufigkeit des Auftretens von Schmerzen.
Tabelle VII.4 Häufigkeit des Auftretens von Schmerzen in vier Altersgruppen
Alter in Jahren
N (%)
M
SD
75–80
52 (20,0)
2,9
1.18
81–85
78 (30,0)
3,0
1.14
86–90
67 (25,8)
2,8
1.35
91–95
63 (24,2)
3,1
1.07
Wir waren davon ausgegangen, dass mit Zunahme der chronischen Krankheitsverläufe, der Multimorbidität und von Frailty in den höchsten Altersgruppen dort auch eine im Durchschnitt deutlich höhere Schmerzintensität wie auch eine deutlich größere Häufigkeit der Schmerzen erkennbar seien. Diese Annahme hat sich in unserer Untersuchung nicht bestätigt. Der Zusammenhang zwischen Alter und Schmerzintensität scheint eher einen U-förmigen Verlauf zu haben – ein Phänomen, das man z. B. auch bei Depressivität im Alter beobachten kann.
Daraus folgt: Es kann in den hohen Altersgruppen nicht ohne Weiteres von einer engen Korrelation zwischen Alter und Schmerzintensität bzw. Schmerzhäufigkeit ausgegangen werden; es ist vielmehr wichtig, eine differenzierte Einschätzung des Gesundheitszustandes, bestehender Erkrankungen und Krankheitssymptome vorzunehmen; in diesem Kontext erweist sich auch ein entsprechend differenziertes Schmerzprotokoll als notwendig.
VII.4 Intensität und Häufigkeit des Schmerzes: Grundlage für die Analyse von „Schmerzpatientinnen“ und „Schmerzpatienten“
Im Folgenden gilt unser Augenmerk der Kombination beider Merkmale: Schmerzintensität und Schmerzhäufigkeit. Diese Kombination wird deswegen vorgenommen, weil sie uns hilft, in unserer Stichprobe „Schmerzpatientinnen“ „Schmerzpatienten“ (mit hoher Intensität und großer Häufigkeit) zu erkennen und der Frage nachzugehen, ob in dieser Teilgruppe ein spezifisches psychologisches Profil erkennbar ist.
Wenn man die beiden Teilgruppen „konstante Schmerzen, Intensität 5–10“ sowie „sehr oft auftretende Schmerzen, Intensität 5–10“ zusammenfasst, dann ergibt sich eine Anzahl von N = 71 Personen (27 % der Teilstichprobe mit Schmerz als Daseinsthema; 17 % der Gesamtstichprobe), die als Schmerzpatientinnen bzw. Schmerzpatienten anzusehen sind, bei denen ausgeprägter schmerztherapeutischer Bedarf besteht.
Im Kontext des von uns erstellten Schmerzprotokolls wurden die Teilnehmer*innen darum gebeten, die medizinische Versorgung im Hinblick auf ihre Schmerzen zu bewerten: Welche Aspekte dieser Versorgung bewerten sie eher positiv, welche eher negativ, welchen Aspekten der Versorgung stehen sie eher gleichgültig oder ambivalent gegenüber?
Auf der Basis der von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern getroffenen Aussagen wurde die Qualität der medizinischen Versorgung im Hinblick auf Schmerzen auf einer dreistufigen Skala eingestuft (1: eher gering, 2: mittel, 3: eher hoch). Die Teilgruppe mit konstanten bzw. sehr oft auftretenden, gleichzeitig eher starken bis extrem starken Schmerzen (Skalenpunkte 5–10) (N = 71 Personen) bewertete unserer Auswertung zufolge die aktuelle schmerzmedizinische Versorgung wie folgt:
Die Aussagen von N = 32 Personen (45,1 %) ließen die Codierung einer mittleren medizinischen Versorgungsqualität im Hinblick auf die Schmerzen zu. Sie gaben unter anderem an, ihre Schmerzen würden vom Arzt bzw. der Ärztin angesprochen, dieser bzw. diese schenke ihnen auch Gehör, wenn sie über Schmerzen sprächen, befasse sich jedoch nicht intensiv genug mit ihren Schmerzen und den Möglichkeiten der medikamentösen und nicht medikamentösen Versorgung. Andere Mitglieder dieser Teilgruppe legten dar, dass sie an der Versorgung nichts zu bemängeln, aber auch nichts positiv hervorzuheben hätten.
Die Aussagen von N = 12 Personen (16,9 %) ließen die Codierung einer eher hohen medizinischen Versorgungsqualität im Hinblick auf ihre Schmerzen zu. Sie äußerten sich sehr zufrieden mit der vom Arzt bzw. der Ärztin vorgenommenen Schmerzdiagnostik und mit der gewählten medikamentösen und nicht-medikamentösen Versorgung. In der Sprechstunde würden die Schmerzen regelmäßig angesprochen. 7 Personen (9,9 %) berichteten, dass der Arzt bzw. die Ärztin angeregt habe, ein Schmerztagebuch zu führen, um auch auf diese Weise zu einer besseren subjektiven Kontrolle von Schmerzen zu gelangen.
Die Aussagen von N = 27 Personen (38,0 %) legten die Codierung einer eher geringen medizinischen Versorgungsqualität im Hinblick auf ihre Schmerzen nahe. Sie betonten, dass sie die Qualität der medizinischen Versorgung nicht als ausreichend wahrnähmen, dass sie den Arzt bzw. die Ärztin als „überfordert“ in der medizinischen Versorgung von Schmerzpatienten erlebten; einige deuteten dies als Ergebnis einer Krankheitssituation, für die es keine wirklichen Heilungs- oder Besserungschancen gebe. Es wurde bisweilen beklagt, dass der Arzt bzw. die Ärztin den Schmerzen vielleicht auch deswegen nicht die notwendige Aufmerksamkeit schenke, da er diese als altersgegeben deute.
Eine ausführliche Frage im erhobenen Schmerzprotokoll betraf Intensität und Häufigkeit des Schmerzes im Falle einer als positiv eingeschätzten medikamentösen und nicht medikamentösen Therapie. Uns interessierte, wie eine positiv bewertete Versorgungsqualität mit dem Bericht über extrem starke, sehr starke oder (eher) starke Schmerzen in Übereinstimmung stehen kann. Hier antworteten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wie folgt: Auch unter der Bedingung einer sehr guten medizinischen Versorgung träten immer wieder starke oder stärkste Schmerzen auf, diese bildeten somit eine konstant bestehende Thematik (konstant bestehende Schmerzen) bzw. sehr häufig auftretende Thematik (sehr häufig auftretende Schmerzen); doch helfe die therapeutische und rehabilitative Behandlung, sehr viel besser mit Schmerzen umzugehen, diese besser kontrollieren zu können.
Diese Aussagen entsprechen der klinischen Erfahrung mit Schmerzpatienten. Es gibt – nicht nur unter den alten Menschen – Schmerzpatienten, die trotz guter medizinischer Versorgung weiterhin starke Schmerzen erleben. Hier sollte man die Frage stellen, ob zusätzlich zu der medizinischen Behandlung weitere Therapiemöglichkeiten intensiver zum Einsatz kommen könnten. Zu nennen wären hier unter anderem die Ansätze der Komplementärmedizin (z. B. Akupunktur), der Psychosomatik, der Osteopathie und Physiotherapie.
VII.5 Schmerzerleben und psychische Befindlichkeit
Welche Zusammenhänge zeigen Intensität und Häufigkeit der Schmerzen (3–10) mit Depressionen (gemessen mit der Geriatrischen Depressionsskala) in der Teilstichprobe jener Personen, bei denen „Schmerz“ ein Daseinsthema mittlerer oder großer Bedeutung bildet? Der Befund lautet: Die Korrelation zwischen Intensität der Schmerzen und der Schwere von depressiven Symptomen erwies sich als nicht signifikant: r (Pearson) = -.02; p = .76. Auch der Zusammenhang zwischen der Häufigkeit der Schmerzen (1–5) und der Ausprägung von depressiven Symptomen zeigte keine statistische Signifikanz: r (Pearson) = .07; p = .25.
In den aufeinanderfolgenden Schmerzintensitätsgruppen (Intensität: 5–6, 7–8, 9–10 auf der Visuellen Analogskala) findet sich kein Anstieg der durchschnittlichen Depressivitätswerte. Auch die Unterschiede zwischen den aufeinanderfolgenden Schmerzintensitätsgruppen und der Teilstichprobe ohne Schmerzprotokoll (N = 140) sind nicht statistisch signifikant.
Aus diesen Befunden folgt: Von der Intensität der Schmerzen kann nicht unmittelbar auf das Vorliegen oder den Ausprägungsgrad einer depressiven Symptomatik geschlossen werden. Vielmehr ist es sinnvoll, nach möglichen psychologischen oder sozialen Mechanismen zu fragen, die (a) das Auftreten oder (b) das Fehlen depressiver Symptome im Falle starker oder stärkster Schmerzen erklären können.
Auch mit Blick auf die Mittelwerte des Merkmals „Lebenszufriedenheit“, gemessen über die Satisfaction with Life Scale, lässt sich kein statistisch signifikanter Einfluss von Schmerzen bzw. von Schmerzintensität konstatieren. Der Vergleich der Lebenszufriedenheit zwischen jenen Teilstichproben, für die das Schmerzerleben ein Daseinsthema (a) mittlerer oder (b) starker Ausprägung bildete, ergab keinen Hinweis auf statistische Signifikanz. Dagegen ergaben sich signifikante Unterschiede im Merkmal „Lebenszufriedenheit“ zwischen jenen Personen, bei denen das Daseinsthema „Schmerz“ eine mittlere oder starke Ausprägung aufwies und bei denen die selbst eingeschätzte Schmerzintensität zugleich einen Skalenpunkt von mindestens 5 erreichte, im Vergleich zu jenen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, für die Schmerz kein persönlich bedeutsames Daseinsthema bildete.
Ein ganz ähnliches Bild zeigte sich beim Merkmal „Kohärenzgefühl“, gemessen über die Sense of Coherence Scale: Es fanden sich zwischen den Teilgruppen mit mittlerer und starker Ausprägung des Daseinsthemas keine Unterschiede in diesem Merkmal. Allerdings unterschieden sich jene Personen mit einer mittleren oder starken Ausprägung des Daseinsthemas und einer Schmerzintensität von mindestens 5 von jenen, für die Schmerzerleben kein Daseinsthema bildete, statistisch hochsignifikant.
Vor dem Hintergrund dieser Daten lassen sich die folgenden Annahmen aufstellen. Erstens: Entscheidend ist zunächst, ob Schmerz ein subjektiv bedeutendes Daseinsthema bildet oder nicht. Jene Personen, für die Schmerz ein Daseinsthema bildet, zeigen in zentralen psychologischen Merkmalen – wie Lebenszufriedenheit und Kohärenzgefühl – deutlich schlechtere Werte als jene Personen, für die Schmerz kein Daseinsthema bildet. Zweitens: Wenn Schmerz für eine Person ein bedeutsames Daseinsthema darstellt, dann ist davon auszugehen, dass sie mit diesem Thema kontinuierlich beschäftigt ist, wobei die Intensität das eine Mal höher, das andere Mal geringer sein kann. Wenn Schmerz für eine Person kein bedeutsames Daseinsthema bildet (was sogar der Fall sein kann, wenn die Schmerzintensität höher ausfällt), dann ist diese Person psychologisch im Vorteil: Die psychologischen Merkmale weisen dann eher in eine positive Richtung. Drittens: Der Schmerzintensität kommt mit Blick auf die psychologischen Merkmale eher eine sekundäre Bedeutung zu: Denn die Intensität steht in einem geringeren statistischen Zusammenhang mit den psychologischen Merkmalen.
In den Merkmalen „Optimismus“ und „Mitverantwortliche Potenziale“ zeigt sich übrigens ein ähnliches Bild: Die differenzierten Schmerzintensitätsgruppen (Intensität: 5–6, 7–8, 9–10 auf der Visuellen Analogskala) unterschieden sich nicht im Ausprägungsgrad dieser beiden Merkmale; zugleich fanden sich statistisch signifikante Unterschiede zwischen jenen Personen, für die Schmerz kein Daseinsthema bildete, und jenen, für die Schmerz ein Daseinsthema von mittlerer oder großer Bedeutung bildete und die die Schmerzintensität mindestens mit 5 codiert hatten; erstere wiesen im Durchschnitt deutlich positivere Werte auf als letztere.
VII.6 Subjektive Kontrolle über Schmerzen
In den Interviews wurde ausführlich thematisiert, inwieweit jene Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die das Daseinsthema „Schmerz“ in mittelgradiger oder starker Ausprägung zeigten (N = 260), die Erfahrung gewonnen hatten, Schmerzen kon­trollieren (vs. nicht kontrollieren) zu können, wobei unter „Kontrolle“ sowohl medikamentöse als auch nicht medikamentöse Interventionsstrategien subsumiert wurden.
Die von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern gegebenen Berichte über die Schmerzkontrolle wurden auf einer fünfstufigen Skala (von 1: keinerlei Kontrolle über die Schmerzen bis 5: sehr hohe Kontrolle über die Schmerzen) codiert. Die nachfolgende Tabelle zeigt die Verteilung der Skalenwerte über die Gruppe der N = 260 Teilnehmer*innen.
Tabelle VII.5 Verteilung der Ausprägung in der selbst eingeschätzten Schmerzkontrolle
N
%
Kontrolle über Schmerz
1,00 (keinerlei Kontrolle)
3
1,2
2,00
68
26,2
3,00
134
51,5
4,00
49
18,8
5,00 (sehr hohe Kontrolle)
6
2,3
Gesamt
260
100,0
Da wir keine Zusammenhänge zwischen der Intensität sowie der Häufigkeit der Schmerzen einerseits und den psychometrisch bestimmten psychologischen Merkmalen andererseits ermitteln konnten,13 nahmen wir an, dass der Grad der Kontrolle über die Schmerzen eine wichtige Erklärungsgröße (im Sinne eines Moderatoreffektes) für den in der Teilstichprobe (N = 260 Personen) fehlenden statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen Intensität und / oder Häufigkeit der Schmerzen und zentralen psychologischen Merkmalen sein könnte.
In Moderatoranalysen, die gerechnet wurden, um mögliche Effekte von Schmerzkontrolle auf den Zusammenhang zwischen Schmerzintensität einerseits und Merkmalen der psychologischen Gesamtsituation andererseits zu ermitteln, ließen sich jedoch keine statistisch signifikanten Interaktionsterme nachweisen.
Aus diesem Grund könnte die Hypothese aufgestellt werden, dass es sich bei Kontrolle über Schmerzen nicht um einen Moderatoreffekt, sondern um einen Haupteffekt handelt. Es könnte weiterhin angenommen werden, dass die Kontrolle über Schmerzen in statistisch signifikantem Ausmaß mit generellen Kontrollüberzeugungen zusammenhängt, was die Annahme eines Haupteffekts stützen würde. Es wurden allerdings in der Studie keine Kontrollüberzeugungen erhoben. Jedoch können einzelne Merkmale der psychologischen Gesamtsituation (vor allem: das Kohärenzgefühl) als verwandt mit dem Konstrukt der Kontrollüberzeugungen angesehen werden. Aus diesem Grunde ist die Korrelation zwischen Kontrolle über Schmerz mit Merkmalen der psychologischen Gesamtsituation auch in der Hinsicht von Bedeutung, ob Schmerzkontrolle vielleicht als ein Haupteffekt wirken könnte – was in weiteren Untersuchungen systematisch zu prüfen wäre. Ganz unabhängig davon sind jedoch die Zusammenhänge für einen Deutungsversuch zur Frage, welches Gewicht die Kontrolle über Schmerzen besitzt, wichtig.
In der nachfolgenden Tabelle finden sich die Korrelationen zwischen „Kontrolle über die Schmerzen“ und den eingesetzten psychometrischen Skalen, die in ihrer Gesamtheit Hinweise auf die psychologische Gesamtsituation geben.
Tabelle VII.6 Korrelation der Schmerzkontrolle mit psychometrischen Skalen
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Kontrolle über Schmerzen
r (Pearson)
,30**
-,07
,19**
,14*
,04
,17**
,51**
,16**
-,03
,24**
p
,00
,27
,00
,02
,54
,01
,00
,01
,67
,00
* p < .05
** p < .01
(1) Kohärenzgefühl – Leipziger Kurzform, (2) Geriatrische Depressionsskala, (3) Lebenszufriedenheit, (4) Einstellung zum eigenen Alter, (5) Subjektives Alter, (6) Subjektive Gesundheit, (7) Optimismus, (8) Mitverantwortliche Potenziale, (9) Barrieren der Mitverantwortung, (10) Entwicklungsgewinne
Wie aus dem Überblick über die Korrelationen hervorgeht, weist das Merkmal „Kontrolle über die Schmerzen“ einen hochsignifikanten Zusammenhang mit den folgenden sechs Merkmalen auf: Optimismus, Kohärenzgefühl, Entwicklungsgewinne, Lebenszufriedenheit, Mitverantwortliche Potenziale, Subjektive Gesundheit. Dabei korreliert die wahrgenommene Schmerzkontrolle am höchsten mit dem selbst berichteten Optimismus (r = .51).
Die Bedeutung der Schmerzkontrolle für die psychologische Gesamtsituation wird auch durch die Ergebnisse der Varianzanalyse (ANOVA) gestützt (siehe nachfolgende Tabellen VII.7 bis VII.10). Hochsignifikante Unterschiede zwischen den verschiedenen Graden der Schmerzkontrolle sind in folgenden Merkmalen erkennbar: Kohärenzgefühl; Depressivität; Optimismus; Entwicklungsgewinne – und zwar in der Richtung, dass bei höherer Schmerzkontrolle stärkerer Optimismus und größerer Entwicklungsgewinn, höheres Kohärenzgefühl und geringere Depressivität berichtet werden.
Tabelle VII.7 Ergebnisse der Varianzanalyse mit Schmerzkontrolle als Faktor und Kohärenzgefühl als abhängiger Variable
N
M
SD
Kohärenz­gefühl –
Leipziger Kurzform
1,00
3
1,3
.57
2,00
68
4,2
1.94
3,00
134
4,9
2.09
4,00
49
5,7
1.70
5,00
6
6,3
1.75
Gesamt
260
4,9
2.06
F (df1 = 4, df2 = 255) = 7.23; p = 0.000
Post-hoc-Analyse: Kohärenzgefühl (Bonferroni): (a) Gruppe 1 zeigt signifikant geringere Werte als die Gruppen 2, 3, 4 und 5; (b) Gruppe 2 zeigt signifikant geringere Werte als Gruppe 4 und 5.
Tabelle VII.8 Ergebnisse der Varianzanalyse mit Schmerzkontrolle als Faktor und depressiver Symptomatik als abhängiger Variable
N
M
SD
Geriatrische Depressionsskala
1,00
3
10,6
2.08
2,00
68
5,2
2.65
3,00
134
4,9
2.25
4,00
49
5,1
2.79
5,00
6
5,0
5.21
Gesamt
260
5,1
2.61
F (df1 = 4, df2 = 255) = 3.78, p = 0.005
Post-hoc-Analyse: Depression (Bonferroni): Gruppe 1 zeigt signifikant höhere Werte als die Gruppen 2–5.
Tabelle VII.9 Ergebnisse der Varianzanalyse mit Schmerzkontrolle als Faktor und Optimismus als abhängiger Variable
N
M
SD
Optimismus
1,00
3
4,0
1.0
2,00
68
5,9
1.81
3,00
134
7,2
2.41
4,00
49
9,4
2.09
5,00
6
11,0
.89
Gesamt
260
7,3
2.53
F (df1 = 4, df2 = 255) = 23.74; p = 0.000
Post-hoc-Analyse: Optimismus (Bonferroni): (a) Gruppe 1 zeigt geringere Werte als die Gruppen 3, 4 und 5; (b) Gruppe 2 zeigt geringere Werte als die Gruppen 3, 4, 5; (c) Gruppe 3 zeigt geringere Werte als die Gruppen 4 und 5.
Tabelle VII.10 Ergebnisse der Varianzanalyse mit Schmerzkontrolle als Faktor und Entwicklungsgewinnen als abhängiger Variable
N
M
SD
Entwicklungs­gewinne
1,00
3
9,0
1.73
2,00
68
11,2
4.10
3,00
134
12,0
3.74
4,00
49
13,6
3.63
5,00
6
14,7
2.94
Gesamt
260
12,1
3.88
F (df1 = 4, df2 = 255) = 4.00; p = 0.004
Post-hoc-Analyse: Entwicklungsgewinne (Bonferroni): Gruppe 1 und Gruppe 2 zeigen geringere Werte als die Gruppen 4 und 5.
Es lässt sich vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse die Annahme aufstellen, dass ein höheres Maß an Kontrolle über die Schmerzen enge Zusammenhänge mit Merkmalen der Selbstgestaltung aufweist. Es ist dieser Aspekt der Gestaltung (des eigenen Selbst, der eigenen Lebenssituation), der in den ermittelten Zusammenhangsmustern in das Zentrum tritt. Diese Aussage soll durch die gesonderte Darstellung der zwischen einzelnen Gruppen (die Unterschiede in der Schmerzkontrolle beschreiben) bestehenden Unterschiede in vier psychologischen Merkmalen gestützt werden.
Im Folgenden werden Ergebnisse der Varianzanalysen für den Vergleich zwischen den Gruppen der Schmerzkontrolle bzgl. der psychosozialen Variablen genauer dargestellt. Als Limitation müssen wir hier benennen, dass Gruppe 1 (keine Kontrolle über die Schmerzen) nur mit 3 Teilnehmern belegt war. Dennoch erschien es uns inhaltlich gerechtfertigt, diese Gruppe separat zu betrachten – und sie nicht zu Gruppe 2 der Schmerzkontrolle hinzuzurechnen.
Aufgrund der sehr kleinen Fallzahl sollten die Ergebnisse bzgl. Gruppe 1 jedoch nur als explorativ bewertet werden. Ähnliches gilt für die Gruppe 5 bzgl. der Schmerzkontrolle (sehr hohe Schmerzkontrolle, N = 6).
Was geht aus dieser zusätzlichen differenzierenden Analyse hervor? Sie zeigt auf, dass die beiden Gruppen mit fehlender oder geringer Schmerzkontrolle eine erheblich ungünstigere psychologische Gesamtsituation zeigen als die drei anderen Gruppen, wobei die psychologische Gesamtsituation in der Gruppe mit fehlender Schmerzkontrolle noch einmal ungünstiger zu sein scheint als in der Gruppe mit geringer Schmerzkontrolle. Sie indiziert weiterhin, dass die beiden Gruppen mit hoher bzw. sehr hoher Schmerzkontrolle eine erheblich günstigere psychologische Gesamtsituation zeigen als die anderen drei Gruppen. Offen bleibt hier die Kausalität des Zusammenhangs. Wir wissen hier nicht, ob eine fehlende Schmerzkontrolle das psychische Erleben stark beeinflusst oder ob umgekehrt eine fehlende psychische Stabilität auch das Erleben der Möglichkeit, den Schmerz zu kontrollieren, verändert. Auch ist möglich, dass sich beide Merkmale gegenseitig beeinflussen. Solche zeitlichen Zusammenhänge müsste man in einem längsschnittlichen Design untersuchen.
VII.7 Personen, für die „Schmerz“ kein bedeutendes oder ein gering ausgeprägtes Daseinsthema bildete
Jene N = 140 Personen, für die „Schmerz“ als „nicht gegebenes oder gering ausgeprägtes“ Daseinsthema eingestuft wurde (Skalenpunkt 1), verteilten sich in ihren Antworten auf die direkt gestellte Frage, ob „Schmerzen“ für sie ein persönlich relevantes Thema bilden, wie folgt: 106 Personen äußerten, dass Schmerzen für sie kein persönlich relevantes Thema bilden (wobei 17 Personen hinzufügten: „noch nicht“). 34 Personen antworteten, dass Schmerzen für sie „ab und zu“ bzw. „selten“ ein persönlich relevantes Thema darstellen, dass sie dieses jedoch auch wieder „vergäßen“ oder dass sie diesem „einfach nicht zu viel Bedeutung beimessen“ wollten. Diese Antworten bestätigten den in den Gesamtinterviews gewonnenen Eindruck, dass „Schmerzen“ in dieser Untergruppe in der Tat kein Daseinsthema mittlerer oder starker Ausprägung bildeten.
Von diesen N = 140 Personen antworteten auf die Frage nach der Häufigkeit von Schmerzen N = 52 Personen, sie seien – mit Ausnahme von akuten Schmerzen (im Falle akuter Erkrankungen) – schmerzfrei oder nahezu schmerzfrei. N = 49 Personen gaben an, dass Schmerzen nur „hin und wieder“ aufträten und dabei auch eine höhere Intensität zeigen könnten, was sie aber persönlich nicht belaste. N = 39 Personen äußerten, dass es durchaus Zeiträume mit häufig oder häufiger auftretenden Schmerzen gebe, dass jedoch die Zeiträume mit Schmerzfreiheit oder mit geringen Schmerzen „deutlich häufiger“ seien und zudem „länger“ andauerten.
Von den N = 140 Personen äußerten auf die Frage nach der Intensität der Schmerzen N = 25, dass die Schmerzen eine sehr geringe, N = 27, dass die Schmerzen eine geringe, N = 66, dass die Schmerzen eine mittlere, N = 22 Personen, dass die Schmerzen eine starke Ausprägung zeigten. Eine sehr starke Ausprägung der Schmerzen wurde von keinem Angehörigen dieser Untergruppe angegeben.
Es wurden auch hier statistische Analysen durchgeführt, um mögliche Zusammenhänge mit den psychometrischen Skalen aufzuzeigen. Dabei zeigte sich, dass Häufigkeit und Intensität der Schmerzen in keinerlei statistisch signifikantem Zusammenhang mit den psychologischen Merkmalen standen.
Auch jene Personen, für die Schmerzen kein bedeutendes Daseinsthema bildeten bzw. die unter direkter Nachfrage angaben, dass Schmerzen kein oder nur selten ein persönlich bedeutendes Thema bildeten, zeigten eine erkennbare Variation in der erlebten Schmerzintensität und in der Schmerzhäufigkeit. Die Intensität der Schmerzen kann relativ hoch sein – und trotzdem bildet der Schmerz kein bedeutendes Daseinsthema; trotzdem finden sich bei der Person in den psychologischen Skalen keine auf Einbußen der Lebensqualität oder auf erlebte Belastung deutenden Werte.
VII.8 Zusammenfassung und Folgerungen für die Förderung von Gesundheits- und Bewältigungsverhalten
Die in dieser Studie durchgeführten Interviews zeigen einmal mehr, dass Schmerzen ein bedeutsames Thema im Alter bilden. Durch die vertiefenden Fragen anhand eines differenzierten Schmerzprotokolls bei Personen, die Schmerz als Daseinsthema nannten, erweitern die Ergebnisse der Studie das bisherige Wissen über Zusammenhänge von Schmerz mit anderen Faktoren. Aus vielen klinischen und bevölkerungsbezogenen Studien weiß man bisher, dass alte Menschen häufig unter chronischen Schmerzen leiden, dass diese häufig nicht angemessen diagnostiziert und auch nicht zufriedenstellend behandelt werden.14 Seit einigen Jahren wird deshalb der Ruf nach einem besseren Schmerzmanagement für alte Menschen immer lauter.
Der hohe Prozentsatz (65 %) von alten Menschen, die Schmerz als bedeutendes Daseinsthema benennen, zeigt, dass Schmerztherapien im Alter weiterhin noch nicht genügend erfolgreich sind. Darüber hinaus findet sich in unserer Studie kein direkter Zusammenhang zwischen der Schmerzhäufigkeit und Schmerzintensität einerseits sowie der psychischen Situation der Teilnehmerinnen und Teilnehmer andererseits. Dies widerspricht den Ergebnissen anderer Studien, die in verschiedensten Kulturen bei alten Menschen einen – auch reziproken – Zusammenhang zwischen chronischem Schmerz und Depression fanden.15 Allerdings gibt es auch Studien, die diesen postulierten Zusammenhang differenzierter untersuchten und zeigen konnten, dass die Relation zwischen Schmerz und Depression im Alter moderiert werden kann durch die Einschätzung der Selbstwirksamkeit.16 Dabei wird Selbstwirksamkeit verstanden als Vertrauen in die eigenen Kompetenzen oder als Überzeugung, schwierige Situationen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können.17 Interessant ist jedoch, dass wir in unseren Analysen keinen Moderatoreffekt für die Einschätzung, die Schmerzen kontrollieren zu können, fanden – was man als einen Aspekt der Selbstwirksamkeit ansehen könnte. Die Zusammenhänge, die in unserer Stichprobe deutlich wurden, sind direkt – zwischen Schmerzkontrolle und der psychischen Gesamtsituation. Optimismus und Kohärenzgefühl korrelieren stark und hochsignifikant mit dem Ausmaß der Schmerzkontrolle. Auch die Entwicklungsgewinne und Lebenszufriedenheit zeigen signifikante Korrelationen mit Schmerzkontrolle. Das verdeutlicht wiederum, dass das Schmerzerleben in eine körperliche, psychische und sozialkulturelle Gesamtsituation eingebettet ist. Eine wirksame Schmerzbehandlung sollte deshalb die gesamte Situation der alten Menschen einbeziehen und – im besten Falle – verschiedenste Behandlungsansätze und Möglichkeiten integrieren.
Aus den Befunden ergeben sich Folgerungen für die Förderung von Gesundheits- wie auch von Bewältigungsverhalten, die nun skizziert werden sollen.
Erste Folgerung
„Schmerz“ bildet für nicht wenige alte Menschen ein bedeutendes Daseinsthema. In unserer Stichprobe war dies bei 65 % der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fall. Dabei war die Anzahl jener Personen, für die „Schmerz“ ein Thema von großer persönlicher Bedeutung bildete, in unserer Stichprobe noch höher als die Anzahl jener Personen, für die „Schmerz“ ein Thema von mittelgradiger Bedeutung war. Schon aus diesem Befund folgt, wie wichtig eine differenzierte Schmerzdiagnostik bei Patientinnen und Patienten ist, die im achten, neunten oder zehnten Lebensjahrzehnt stehen.
Zweite Folgerung
Die Tatsache, dass von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an unserer Untersuchung mehr als jede bzw. jeder sechste an starken bis extrem starken Schmerzen litt, weist auf die Notwendigkeit einer fundierten, auf die individuellen Bedarfe und Bedürfnisse ausgerichteten Schmerztherapie hin – die nicht aufgibt, bevor Schmerzen gelindert oder kontrolliert sind. Diese Forderung ergibt sich nicht allein im Hinblick auf Patientinnen und Patienten mit starken bis extrem starken Schmerzen; schon Patientinnen und Patienten mit mittelgradigen oder eher starken Schmerzen sind auf eine fundierte und umfassende Schmerztherapie angewiesen. Das Fehlen eines derartigen Therapieangebotes ist als ein bedeutender Mangel zu interpretieren, der aufseiten von Patientinnen und Patienten mit einer deutlichen Einbuße an Lebensqualität verbunden ist.
Dritte Folgerung
Es finden sich keine statistisch bedeutsamen Zusammenhänge zwischen der Intensität bzw. der Häufigkeit von Schmerzen und dem Ausprägungsgrad der Depressivität. Auch die gegebene vs. fehlende subjektive Bedeutung von „Schmerz“ (im Sinne eines Daseinsthemas) zeigt keine statistisch signifikanten Zusammenhänge mit Depressivität. Es darf also nicht von den Schmerzen unmittelbar auf Depressivität geschlossen werden. Dies bedeutet: Der Art und Weise, wie Menschen Schmerzen zu verarbeiten und zu bewältigen versuchen, ist sehr viel größere Bedeutung beizumessen.
Vierte Folgerung
Für die psychologische Gesamtsituation jener Personen, bei denen Schmerzen vorliegen – und zwar unterschiedlicher Intensität und Häufigkeit –, ist die selbst attribuierte Kontrolle der Schmerzen (pharmakologisch und nicht pharmakologisch) essen­ziell. Durch Förderung dieser selbst attribuierten Kontrolle – zum Beispiel auf dem Weg eines Schmerztagebuches – könnte ein Beitrag zur Förderung der psychologischen Gesamtsituation geleistet werden.
Fünfte Folgerung
Die Tatsache, dass Schmerzintensität und -häufigkeit keinen unmittelbaren Zusammenhang mit der psychologischen Gesamtsituation aufweisen, sondern allein die subjektiv attribuierte Kontrolle der Schmerzen, lässt zwei Schlüsse zu: (a) Das Schmerzerleben ist in eine körperliche, psychische und sozialkulturelle Gesamtsituation eingebettet: Wenn diese Gesamtsituation von mehreren Belastungen bestimmt ist, dann muss mit der Zunahme des Einflusses von Schmerzen auf wichtige psychologische Merkmale gerechnet werden. (b) Die objektiv gegebene wie auch die subjektiv bewertete Lebenssituation alter Menschen ist komplex: Schmerzen bilden nur eine (wenn auch sicherlich bedeutende) Komponente der Lebenssituation. (c) Mit Blick auf die schmerztherapeutischen Folgerungen ist zu konstatieren: Die Schmerztherapie muss ein deutlich höheres Gewicht in der medizinischen Versorgung einnehmen; dabei ist die medikamentöse Komponente der Schmerztherapie ebenso zu stärken wie die nicht medikamentöse (physio-, sport- und bewegungstherapeutische, psychotherapeutische).
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Kapitel VII: Schmerzempfinden und Schmerzverarbeitung
Andreas KruseHartmut RemmersEric SchmittBeate Wild
VII.1 Stichprobe und Messinstrumente
VII.2 Schmerz als bedeutsames Daseinsthema
VII.3 Intensität und Häufigkeit von Schmerzen nach Altersgruppen
VII.4 Intensität und Häufigkeit des Schmerzes: Grundlage für die Analyse von „Schmerzpatientinnen“ und „Schmerzpatienten“
VII.5 Schmerzerleben und psychische Befindlichkeit
VII.6 Subjektive Kontrolle über Schmerzen
VII.7 Personen, für die „Schmerz“ kein bedeutendes oder ein gering ausgeprägtes Daseinsthema bildete
VII.8 Zusammenfassung und Folgerungen für die Förderung von Gesundheits- und Bewältigungsverhalten
Literatur