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Decorum und Mammon im Widerstreit? Adeliges Wirtschaftshandeln zwischen Standesprofilen, Profitstreben und ökonomischer Notwendigkeit
11 Feb 2022
Hinführung zu den Beiträgen dieses Bandes: Bedingungen, Motive und Handlungsfelder adeliger Wirtschaftsaktivitäten in der Vormoderne
Adeliges Wirtschaftsengagement – gleichgültig, ob es primär konsumatorischer oder kommerziell-unternehmerischer Natur war – erweist sich als extrem komplexes und vielgestaltiges Phänomen, dessen Einordnung und Einschätzung alles andere als ein leichtes Unterfangen darstellt. Zu jedem Zeitpunkt hat es die Zeitgenossen zu kritischen, spöttischen, abschätzigen, aber auch bewundernden, erstaunten, anerkennenden Kommentaren und Urteilen verleitet. Irgendwie schien bzw. scheint es stets mit dem Hauch des Besonderen, des Ungewöhnlichen verbunden (gewesen) zu sein, das selbst die Historiographie der (Post-)Moderne in ihrem Urteil unschlüssig-indifferent wirken ließ, sofern sie sich nicht vollends auf die Seite Max Webers und seiner Mitstreiter schlug. Die Analyse und Einschätzung adeligen Entrepreneurships erschienen und erscheinen jedenfalls stets fallweise und dabei massiv differenzierungsbedürftig, allein schon, weil die jeweiligen Zugangsweisen der Akteure zu ökonomischen Fragestellungen und Herausforderungslagen extrem divergierten.
Die Beiträge des Bandes geben hierüber intensiv Aufschluss und weisen zudem aus, wie widersprüchlich adeliges Entrepreneurship teilweise sein konnte, schon weil es zwischen verschiedenen Welten – nämlich der Welt der Ökonomie und der Standes­logik – oszillierte. Dabei musste es sich nicht um ein Ausschließungsverhältnis handeln. Das eine konnte das andere selbstverständlich unterstützen und befördern bzw. stellte unter Umständen sogar die Voraussetzung für den jeweiligen Erfolg auf dem ökonomischen oder ständisch-sozialen Feld dar. Doch blieb adeliges Entrepreneurship stets auch eine soziale Herausforderung – und dies für alle Beteiligten. Gemeinsam war der adeligen und der ökonomischen Welt, dass eine wesentliche Kapitalie der »Marktbeziehung« – gleichgültig auf welchem Feld – das soziale Prestige war, das es funktional einzusetzen, aber eben auch auf- und stets auszubauen galt.
Betrachtet man in einem ersten Schritt die Bedingungen und Kontexte adeligen Wirtschaftshandelns in der Frühen Neuzeit, so finden sich vorab keine konfessions­spezifischen Determinanten. Weder im katholischen noch im protestantischen ­Bereich beschränkten die spezifischen Ethiken bzw. Moralkodizes die ökonomischen Aktivitäten grundlegend. Es lässt sich noch weniger davon sprechen, dass protestantischer Adel in ausgeprägterer Weise ökonomieaffines Verhalten an den Tag gelegt hätte als katho­lischer; für die umgekehrte Annahme gilt nämliches. Dies ergibt sich zum einen schon aus dem kolonialen und kommerziellen Engagement von Teilen des ­mediterranen – gerade des iberischen – Adels, zum anderen aus den Möglichkeiten, die die ­verschiedenen Marktsegmente – sei es die Agrarwirtschaft, sei es das Montangewerbe – boten. Zweifellos am besten illustriert der frühneuzeitliche Sicherheits- und Militärsektor das schrankenlose und konfessionsübergreifende ökonomische Engagement des alteuropäischen Adels, nicht zuletzt, weil er rationales Wirtschaftshandeln mit den sozialen Logiken und Selbststilisierungen der Adelswelt verband. Allen Adelsgruppen jedweder Konfession boten sich auf diesem Feld während der gesamten ­Frühen Neuzeit ungeheure Profitchancen bei persönlich hohem Risiko auf vielen Kriegsschauplätzen und unter wessen Banner auch immer.
Allerdings sah nicht jeder Adelige im militärischen Sektor seine persönliche ökonomische Zukunft. Dies war nicht nur von der Risikobereitschaft des Einzelnen, sondern insbesondere auch von seinen individuellen bzw. familiären Voraussetzungen ­abhängig; und diese variierten doch erheblich. Die Frage, auf welche Voraussetzungen ein adeliger Wirtschaftsakteur bei seinen Aktivitäten zurückgreifen konnte, betraf alle Umfeldbedingungen wie sein Vermögen, seine Liquidität, Bonität, mehr aber noch die Verfügbarkeit von Land- und Personalressourcen sowie Herrschaftsrechten, die sich als Produktionskapital nutzen ließen. Sie entschieden über die Dimension, Intensität und Ausrichtung adeligen Wirtschaftshandelns nicht unwesentlich mit. Dabei waren gerade die ökonomisch unmittelbar nutzbaren Rechte und Privilegien nicht zu unterschätzen. Steuererleichterungen, Mühlen-, Brenn- und Schankrechte etc. vermochten lokale Märkte teilweise monopolartig zu beeinflussen. Für Wege-, Brücken- und Zollrechte galt dasselbe, während die Verfügbarkeit von billiger Arbeitskraft mittels Hand- und Spanndiensten in einigen Regionen Europas einen erheblichen Wirtschafts- und Preisgestaltungsfaktor, in anderen Regionen dagegen in Form von Abgaben eher einen Faktor zur Festigung einer berechenbaren monetären Basis des adeligen Einkommens darstellte. Zusammengenommen geben solche Voraussetzungsfacetten einen Eindruck davon, in welchem Ausmaß das adelige Wirtschaften in lokale Kontexte integriert war, das heißt, von ihnen ebenso abhängig war, wie es diese beeinflusste.
Zugleich besaß adeliges Wirtschaftsengagement parallel zur Entfaltung der alt­europäischen Märkte eine überregionale Dimension. Sie machte sich an der seit dem 15. Jahrhundert im zentralen Kontinentaleuropa zunehmenden adeligen Eigenwirtschaft im Agrarsektor bemerkbar, aber auch in anderen Segmenten. Notwendig war für solche Aktivitäten die Verfügbarkeit entsprechender natürlicher Ressourcen, allen voran Rechte an Land, das für die Anlage und Nutzung von Wäldern, Teichen oder Bergbau verwendet werden konnte. Gerade die Verfügbarkeit von Holz bzw. Holzeinschlagsrechten darf nicht unterschätzt werden, handelte es sich doch um eine herausragende Bedingung für den Einstieg in technologisch anspruchsvolle, energetisch kostenintensive, permanent investitionsintensive, daher hochrisikobehaftete und dabei extrem gewinnträchtige Geschäfte im Bereich der Salz- und Glasherstellung sowie des Montangewerbes. Für diese Wirtschaftssegmente war in der Regel die Bildung von ­Investitionskonsortien unumgänglich und stellten entsprechende Erfahrungen und technisch-naturwissenschaftliches Fachwissen eine unabdingbare Voraussetzung dar, für die nicht selten nur begrenzt verfügbarer Sachverstand angeworben und somit eingekauft werden musste.
Gerade die mit großen Risiken und großen Investitionskosten verbundenen Engagements machten die Fähigkeit zur Diversifikation der eigenen Wirtschaftsaktivitäten notwendig. Überwiegend stand am Anfang eines Einstiegs in Hochrisiko-Geschäfte entweder die Suche nach Anlagemöglichkeiten für die Profite aus der Agrarrente oder ein ökonomischer Strategiewechsel, weil sich weitere Engagements in bestimmten Bereichen der Agrarwirtschaft nicht mehr lohnten. So wie sich im Kontext der aufstrebenden Textilindustrie große Teile des englischen Adels im 15. und 16. Jahrhundert gezielt auf die Schafwirtschaft eingelassen hatten, um deren Profite später in den Handels­sektor zu investieren, ließen sich österreichische Adelige im ausgehenden 16. und 17. Jahrhundert vor dem Hintergrund religiös-konfessioneller Normsetzungen zunächst verstärkt auf die Teichwirtschaft und Fischzucht ein, um sie später wieder aufzugeben, als die technisch-hydrologischen Anforderungen zu kostenintensiv wurden und sie angesichts rückgängiger Absatzmärkte nicht mehr profitabel genug war.
Diese Bemerkungen weisen auf unterschiedliche Rollen des Adeligen bei seinem ökonomischen Engagement bzw. in den Wirtschaftsstrukturen Alteuropas hin. Er agierte nicht immer als aktiver Part des unmittelbaren Tagesgeschäfts; dies überließ er nicht selten und aus unterschiedlichen Gründen – sei es aus Fragen der Abkömmlichkeit, des Interesses, der Fähigkeiten oder der funktionalen Effektivität – seinen ­Verwaltern. Daher finden sich adelige Entrepreneurs häufiger als Akteure des sichtbaren Hintergrunds, also als kapitalgebende Investoren und als »soziale Türöffner« – wir würden sagen: als Lobbyisten und als Repräsentanten – bei den »richtigen« ­Personen der fürstlich-monarchischen Höfe, Verwaltungen und Regierungen, in denen sie ebenso häufig selbst als soziale Akteure bzw. herrschaftliche Funktionäre agierten. Als »Netzwerker« in solchen sozialen Formationen und Institutionen vermochten Adelige ihre eigenen Wirtschaftsinteressen und die ihrer Geschäftspartner zu vertreten und wirksam werden zu lassen, indem sie in Ständeparlamenten für oder gegen bestimmte wirtschaftliche Regelungen agitierten und votierten, entscheidende Personen beeinflussten, Informationen einholten oder solche in kommunikative Abläufe und Strukturen einspeisten. Adeliges Entrepreneurship stellte sich demnach sozial multifunktional dar, wobei das, was nur »soziale Begleitmusik« zu sein scheint, für die vormodernen Verhältnisse von kaum zu überschätzendem Wert war. Daraus folgt mit Blick auf den Stellenwert des Themas dieses Bandes: Eine Geschichte der vormodernen Wirtschaftsentwicklung ist angesichts der Bedeutung von Adel und Adeligkeit in den soziopolitischen Strukturen der Vormoderne ohne eine Berücksichtigung des Adels in dieser Wirtschaftsgeschichte nicht zu schreiben.
Ein bestimmendes Motiv adeligen Wirtschaftsengagements waren und blieben bei alldem zweifellos die ökonomischen Bedürfnisse und Zwänge, die sich aus Adeligkeit und der permanenten Adelskonkurrenz ergaben. Dies resultierte bereits aus den innerfamiliären Gemengelagen und betraf in erster Linie die adelige Existenz der nachgeborenen Söhne, sehr wohl aber auch die der Töchter und Witwen. Solche und andere Angelegenheiten zu ordnen und in konsensuale Lösungen zu überführen war die Aufgabe von Familienverträgen, deren wirtschaftliche Dimension Stephan Wendehorst für reichsständische Fürstenfamilien untersucht. In den Regionen Alteuropas, in denen sich die Primogenitur durchsetzte, waren die nachgeborenen Söhne gezwungen, sich eine eigene ökonomische Existenz und eine eigene soziale Position in der Adelswelt aufzubauen. Aufbau und Erhalt einer solchen Position waren allerdings – unabhängig von der Frage der Primogenitur oder der Erbteilung – zentrale Motive eines ökonomischen Engagements des Adels. Ostentative Repräsentation, Legitimation und Behauptung der eigenen Exzellenz – gleichgültig in welchen Dimensionen und in welchen Ausdrucksformen – sowohl innerhalb des eigenen Standes als auch gegenüber Angehörigen anderer Stände machten Ausgaben notwendig, die gedeckt sein wollten. Es handelte sich demnach um ein grundlegendes Anforderungsmerkmal adeliger Existenz und Exzellenz. Die Frage der Adeligkeit war daher konsequenterweise stets mit der Frage des Wirtschaftens und des Reichtums verbunden. Die fundamental erscheinende Problematik der Geldfrage stellt sich daher in der Tat, wie Ronald G. Asch es beschreibt, als eine Geschichte des Spannungsfeldes zwischen »demonstrativer Verschwendung und Bewahrung des Erbes« dar. Sie war jedoch nicht einfach nur auf Tradition und Vergangenheit gerichtet, sondern besaß eine genuin zukunftsweisende Komponente, die die Gegenwart des adeligen Akteurs betraf. Denn die Verpflichtung auf die Wahrung des materiellen wie immateriellen Erbes erzwang die Gestaltung der Gegenwart gerade wegen des Blicks auf die Zukunft; und gleichgültig wie ausgeprägt das Gefühl des einzelnen Adeligen für diese Verpflichtung auf die Vergangenheit gewesen sein mag, so musste es sein genuines Ziel sein, in Instrumentalisierung seines Erbes und von dessen wie auch immer ausgeprägten Kapitalien selbst eine angenehme Zukunft zu besitzen bzw. zu gestalten.
Der von Asch als Themenfeld geöffnete Horizont »Der Adel und das Geld« erweist sich demnach nicht bloß als Problematik mangelnder Liquidität oder verfügbaren Kredits, sondern auch als Horizont sich bietender Chancen. Hierbei mochte der Adel ­notabene dem nicht-adeligen Unternehmer und seinen Geschäften kaum unähnlich sein; beide benötigten zum Erhalt und Ausbau ihres Geschäftsfeldes entsprechende finanzielle Mittel und, sofern sie über diese nicht unmittelbar verfügten, den Zugriff auf Kredite, die durch soziale Kontakte generiert wurden. Diese Problematik verweist auf das komplexe Feld der Einbindung von Adeligkeit in ein materialistisches Verständnis von Gesellschaft, das – wie bereits angerissen – die ständischen Eliten der Vormoderne umtrieb. Die von Matthias Schnettger vorgestellte Kritik der Zeitgenossen an den divites Genuenses des 17. und 18. Jahrhunderts erweist dies schlaglichtartig: Den zahllosen Negativstereotypen wie Arroganz, Treulosigkeit, Ehrlosigkeit, Habgier, fehlende Kultiviertheit, Eigensucht, die allesamt auf mangelnde Adeligkeit schließen ließen, stand die Wahrnehmung des geradezu märchenhaften Reichtums gegenüber, der zwar nur ostentativ dargeboten, nicht gelebt wurde, aber eben eine entscheidende Realität war. An den tief verachteten, tief bewunderten Genuesern – Krämer, ­Händler, ­Bankiers – konnten sich die Zeitgenossen bestens abarbeiten, nur um indirekt zu beweisen, wie sehr sie die Reichtumsfrage und damit verbunden die Frage nach der ­Zulässigkeit ökonomischen Engagements umtrieb.
Denn die Frage nach der Bedeutung von Reichtum berührte nicht nur die Begründung und Profilierung von Adeligkeit, sondern auch die nach der Denkbarkeit vertikaler sozialer Mobilität durch Reichtum bzw. Armut sowie nach den Effekten solcher Mobilität auf die Konstellation der alteuropäischen Gesellschaften und insbesondere auf die Komposition ihrer Eliten. Dahinter verbarg sich selbstverständlich zum einen die Wahrnehmung realer sozioökonomischer Veränderungen durch die Zeitgenossen, also die Wahrnehmung von Wandlungsvorgängen in den ökonomischen Strukturen, bei den Akteuren und deren Erfolgen oder Misserfolgen, bei der Erschließung, Verfügbarkeit und dem Einsatz von Ressourcen, Techniken und Wissen, sowie zum anderen die Wahrnehmung von deren Effekten auf politisch-herrschaftliche Entscheidungen. So wenig die vormoderne Welt als eine statische begriffen werden kann, so wenig gilt dies für die Entwicklung ihrer Gesellschaften und von deren Eliten, die beide von ökonomischen Verhältnissen und deren Veränderungen ebenso tangiert waren, wie sie diese mitgestalteten.
Dies gilt es im Hinterkopf zu behalten, gerade weil Friedrich Lenger in seinem Beitrag zu dem Schluss kommt, bei Adel und Kapitalismus handele es sich gerade nicht um ein – wenn auch spannungsgeladenes – Ausschließungsverhältnis, bei dessen ­Analyse zudem das Spiel wechselseitiger Projektionen zu beachten seien. Sind Letztere in der Regel als binäre Oppositionen angelegt – wobei es dann umso wichtiger wäre zu fragen, wer mit welchen Motiven solche Oppositionen anlegte –, so ist nach Lengers Auffassung im Bereich sozialer Praktiken vieles möglich. Konsequent folgert er daher, dass adeliges Wirtschaftsengagement nicht am Maßstab bürgerlichen Unternehmertums gemessen werden könne; und umgekehrt: es gelte danach zu fragen, inwieweit bürgerliche Unternehmer gemäß den Weber’schen Erwerbsidealen lebten. Damit verbunden ist die Frage, ob die jeweiligen Stilisierungen – Adel als eine auf Erinnerung, Tradition und Kontinuität bedachte Elite, Kapitalismus als eine auf die Zukunft ausgerichtetes Wirtschafts- und Lebenskonzeption – wirklich einander ausschlossen bzw. den Realitäten entsprachen oder nicht doch eher im Sinne der (Re-)Produktion von sozioökonomischen Idealen bloß funktionale Imaginierungen darstellten, also ­imagined futures bzw. imagined elites repräsentierten. Bei näherer Betrachtung erweist sich, dass es sich nicht um automatische Antagonismen handeln musste. Vielmehr drängen sich funktionale Parallelen auf, insofern Adeligkeit in ihrem Status stets ebenso prekär war wie die Unternehmerexistenz; insofern Adeligkeit zwar legitimierend auf die Vergangenheit und Kontinuität verwies, aber auf die durch geschicktes Hantieren mit den verschiedenen Kapitalsorten erzielten Erfolge der Gegenwart und der Zukunft zum sozialen Überleben angewiesen war; und insofern der nicht-adelige Unternehmer bei der Erschließung neuer Märkte, Ressourcen und Kunden selbstverständlich ebenfalls auf seinen vergangenen Erfolg, seine Erfahrung im Geschäft und auf seine Reputation verwies. Je länger er im Geschäft war, umso intensiver legitimierte er seine Anwartschaft auf zukünftigen Erfolg mit dem werbenden Verweis auf die Vergangenheit; umgekehrt versucht ein im Markt neu aufgetauchter Entrepreneur auf seine frischen Ideen und insofern auf die Antiquiertheit der alten zu verweisen. In beiden Fällen handelte es sich um Konkurrenzmärkte, deren Unterschiedlichkeit in der Betonung der ökonomischen oder der sozial-ständischen Komponente bestand, die einander jedoch für wirklichen Erfolg bedurften. Der Adel bedurfte des ökonomischen Erfolgs zur materiellen Fundierung des sozialen Überlebens, während der Unternehmer das soziale Prestige der Adeligkeit anstrebte, weil es sich um einen ständischen Zielhorizont mindestens der Vormoderne handelte, der den Eintritt in die soziale Elite und zugleich weitere ökonomische Chancen eröffnen konnte.
Dies öffnet den Blick auf die Funktion von Adeligkeit als ökonomischem Kapital. Der Beitrag von Stefan Rohdewald zeigt dies exemplarisch für einen geographisch riesigen Raum auf, der von unterschiedlichen Adelsgesellschaften und insofern sozialen Logiken bzw. Praktiken von Adeligkeit geprägt war. Demnach stellte Adeligkeit im transosmanischen Handel des Luxuswarensegments ein notwendiges Instrument dar, um in dem damit verbundenen regime of value (Arjun Appadurai) eine Chance auf einen Platz im ökonomischen Geschehen zu erhalten. Dies resultierte gerade aus den Handelsobjekten – den Luxuswaren, die von jeweiligen Eliteangehörigen gehandelt und konsumiert wurden. Die Anpassung an und die Einordnung in soziale ­Logiken – das heißt auch: in die sozialen Hierarchien an Höfen und lokalen Gesellschaften – ­erzwang demnach die Herstellung von Kompatibilitäten. Adeliger Status war daher ein unternehmerisches Ziel, eine soziale Voraussetzung oder ein Anreiz zur Erschließung von Märkten und Wahrung von Marktchancen zwecks Generierung eines Reichtums, der sozial-ständische Absicherung bzw. Aufstieg ermöglichte.
Mochte der Adel in Europa einschränkende Bedingungen seiner unternehmerischen Engagements kennen, so waren ihm letztlich doch alle ökonomisch-­unternehmerischen Handlungsfelder bekannt und wurden von ihm aus genuinem Eigeninteresse heraus intensiv ›beackert‹. Dies galt überdies nicht allein für die männlichen Standesvertreter, sondern – wie der Beitrag von Bettina Braun zur Essener Fürstäbtissin Maria ­Kunigunde von Sachsen und deren Engagement bei der Erschließung und Betreibung von Montanunternehmungen zeigt – auch für weibliche Adelige, überdies mit einer gewissen Selbstverständlichkeit.
Ein primär, vielleicht sogar in entwicklungsgeschichtlich nachvollziehbarer Weise prioritär herausragendes Feld des ökonomischen Engagements stellte zweifellos der gesamte Bereich der Agrarwirtschaft dar. Hier wirkten Adelige als Produzenten der ihrem Besitz entstammenden Waren – Vieh und Frucht –, die regional höchst verschieden ­waren. Zugleich wirkten sie als Vermarkter sowohl für die heimischen als auch für weiter entfernte Märkte, je nachdem wie hoch die Transportkosten ­waren. Dies galt gleichermaßen für Sekundärprodukte der Agrarwirtschaft, also für die aus den Agrarfrüchten gewonnenen Waren wie Öl oder Branntwein, die selbst oder durch ­Zwischenhändler bzw. Konsortien teilweise über große Distanzen hinweg meist in stärker urbanisierte Regionen transportiert und dort vermarktet wurden. Die ­großen Städteregionen Oberitaliens und Nordwesteuropas und deren demographisch-­ökonomischer Boom ­wären ohne das agrarische Mehrprodukt des jeweiligen Umlandes und weiter entfernter ­Regionen (Süd- und Ost-)Europas nicht denkbar gewesen. Der Adel – gleichgültig ­welcher binnenständischer Qualität – wusste sich an die Nachfrage anzupassen und diese organisatorisch geschickt zu bedienen; und er wusste sich notfalls auch gegen seine Konkurrenten aus den Städten zur Wehr zu setzen, wenn auch nicht immer erfolgreich, wie Anette Baumann anhand des Beispiels des Hauses ­Löwenstein-Wertheim zeigt: Das dynastische Unternehmerkonsortium war seit 1773 mit der Reichsstadt Frankfurt in einen sich akzelerierenden Konflikt über Marktmacht und Marktgestaltung auf der Frankfurter Messe geraten. Diese Auseinandersetzung verschärfte sich 1787, als der regionale Plattform-Monopolist – die Reichsstadt und ­deren patrizische Eliten – ostentativ von dem Wertheimer Messschiffer unter ­Androhung der Arrestierung seines Schiffes eine Strafgebühr einforderte und ihm befahl, seinen Wein nur noch an Wertheimer Messebesucher, aber nicht an Frankfurter und Fremde zu verkaufen. Auch sollte er eine Waage, die er zum Messen von Waren errichtet hatte, nicht mehr aufstellen dürfen. Der Fall landete sehr schnell vor dem Reichskammergericht, wo die städtischen Advokaten auf Zeit spielten, wenig juristisch, sondern gleichsam markt- bzw. monopolradikal argumentierten und erfolgreich auf die Uneinigkeit im gespaltenen Hause Löwenstein-Wertheim setzten. Am Ende stand denn auch ein Ausgleich, der zwar die Interessen aller bediente, aber dennoch nachwies, wie stark die realwirtschaftliche Position der Reichsstadt war, die im Zweifelsfalle ­Kaiser, Reichskammergericht und einen Reichsstand auf der öffentlichen Bühne vorführen konnte. Dieses Fallbeispiel zeigt insofern auch auf, wie stark argumentative Strategien und wirtschaftstheoretische bzw. wirtschaftsrechtliche Auffassungen an die jeweiligen Interessen der jeweiligen Wirtschaftsakteure, nicht jedoch an deren gesellschaftlichen Stand gebunden waren. Während die Vertreter der Städte durchaus ihre infrastrukturellen Monopolstellungen zu verteidigen wussten, pochten adelige Unternehmer nicht selten auf freien Marktzugang.
Gleiches galt für den Gewerbesektor in unterschiedlichen Phasen. Auch hier wusste der Adel seine Wirtschaftsressourcen und unternehmerischen Potentiale zu heben, wenn er etwa Wassermühlen für Müllereien, Sägewerke oder Hammerwerke nutzte. Damit nahm er vor Ort eine permanente Schlüssel- und Zulieferfunktion in der ­Agrar- und Handwerkswirtschaft ein. Wie sehr der Adel um die innovativen Wirtschafts­segmente und deren Profitabilität wusste, lässt sich daran ablesen, dass sich eine ­erhebliche ­Anzahl an Standesangehörigen im Manufakturwesen engagierte. Das konnte die – selbstverständlich privilegierte – Produktion von Stoffen und Bekleidung ebenso betreffen wie die Seidenraupenzucht und Seidenverarbeitung, die ­Porzellan- oder die Waffenproduktion. Dabei musste der so engagierte Adelige keineswegs als ­direkt involvierter Akteur auftreten. Viel häufiger lassen sich Einlagebeteiligungen nachweisen, die aus den Kreisen der jeweiligen (adeligen wie nicht-adeligen) Akteure bei Hofe stammten. Sie nutzten demnach ihr (privilegiertes) Wissen aus dem Regierungskosmos und setzten es in unternehmerische Aktivität um.
Der Adel spielte auf diese Weise eine keineswegs unbedeutende Rolle in den Innovations- und Modernisierungsvorgängen in den ökonomischen Strukturentwicklungsprozessen Alteuropas.
Das weist auch darauf hin, dass es sich um durchaus erstaunlich flexible Wirtschaftsakteure handelte. Nicht umsonst weist die Studie von Dieter Wunder zu der hessischen Unternehmerin Ermgard von Wehren (1566/67–1626) aus, dass selbst ein Scheitern in einem Wirtschaftssegment nicht automatisch mit der Selbstbeschränkung auf eine Rentiers­existenz verbunden war. Die aus vielerlei Gründen gescheiterte ­Gutsherrin von Stande zog sich eben gerade nicht zurück, sondern reüssierte risikofreudig – wenn auch sicherlich aus ökonomischen Zwängen heraus – als Montanunternehmerin. Sie erfand sich geschäftlich neu und initiierte die finanzielle Entwicklung eines Stahlunternehmens in Völkershausen.
Abgesehen von der Einschlägigkeit solcher Einzelbeispiele weist die Studie auf die Notwendigkeit einer intensiveren, zudem systematischen Auswertung von ­Adelsarchiven für das Feld der vormodernen Wirtschafts- und damit auch der Sozialgeschichte hin, die dabei keineswegs nur auf Gender-Fragen abheben muss. Denn zusammen mit der ökonomischen Flexibilität erweist sich an derartigen Beispielen die ökonomische Risikofreude adeliger Entrepreneurs. Dies ließ sich seit dem Spätmittelalter auch an dem immer lukrativeren, wenn auch wesentlich kostenintensiveren und gefährlicheren Montansektor ablesen. Nicht nur Grafen und Fürsten engagierten sich auf diesem Wirtschaftssektor, der schnell immer größere Bedeutung gewann, sondern auch Niederadelige. Ihnen allen war gemeinsam, dass sie sich – wie beispielsweise die Erschließung der neuen Bergbauregionen des Harz und Sachsens im 14. Jahrhundert ausweist – ganz selbstverständlich zu Konsortien zusammenschlossen, um die notwendigen Investitionssummen zusammenzubringen und die enormen Erschließungsrisiken zu mindern. In diese Unternehmungen flossen unter anderem Erträge ein, die zuvor aufgrund der positiven Agrarkonjunktur hatten erwirtschaftet werden können. Dabei traten Adelige allerdings nicht immer als direkte Unternehmer bzw. Anteilseigner auf; beliebt war auch, lediglich eine bestimmte Rolle als Kreditgeber zu spielen, also jene Investitionssummen vorzufinanzieren, die bei späterer lukrativer Ausbeutung um ein Vielfaches zurückgezahlt werden sollten.
Kreditinvestment war ohnehin ein verbreitetes Geschäftsfeld des Adels. Es ergab sich aus dem Kapitalbedarf nicht nur von Unternehmern jeden Standes, sondern auch aus den Kreditbedürfnissen von Standesangehörigen und insbesondere der regierenden Fürsten. Adelige Kreditorentätigkeit war demnach stets auch und vielleicht sogar in erster Linie politisch-sozial intendiert, das heißt beispielsweise durch die Sorge um den Zusammenhalt der Familien oder des Familienverbandes, aufgrund des Willens, politische Entscheidungen von Regierenden finanziell abzusichern und/oder zu beeinflussen, oder aufgrund des Wunsches, selbst bestimmte Positionen in Regierung und Verwaltung einzunehmen. Adeliges Kreditinvestment war so gesehen gleichsam das Kapital anderer Kapitalsorten von Adeligkeit. Es verschaffte finanziell gut ausgestatteten Standesangehörigen die Möglichkeit, neue Einnahmequellen auf weitaus lukrativeren Wirtschaftsfeldern zu generieren. Daneben eröffnete es ihnen die Chance auf ständisch-sozialen Aufstieg. Solche soziale Mobilität im Adel betraf die Einheirat in den fürstlich-gräflichen Adel ebenso wie die Erhebung in ebendiese Adelsränge.
Neben der sich entwickelnden Montanindustrie war gerade in Südeuropa die Finanzierung von maritimen Expeditionen ein weiteres Feld kreditorischen Engagements, bei dem sich gerade genuesische Kaufleute von Stande, aber auch andere engagierten und bei dem – mit sehr viel Wagemut – ungeheure Profite systematisch erwirtschaftet werden konnten. Dies gilt gleichermaßen für den gesamten Wehr- und Militärsektor. Solches unternehmerische Engagement entsprach nicht nur dem klassischen Rollenklischee innerhalb der Ständegesellschaft, sondern auch einem rationalen Umgang mit den gewandelten sicherheits- und wehrpolitischen Entwicklungen seit dem Ende des Hochmittelalters. Mochte seit dem 14. Jahrhundert das Ende des ritterlichen Kampfes auf dem Schlachtfeld und mit ihm der Aufstieg der Söldnerhaufen eingeläutet worden sein, so bedeutete dies keineswegs das Verschwinden des Adels und dessen zunehmende Funktionslosigkeit, sondern vielmehr dessen Funktionswandel vom Hauptkombattanten, Vasallen und Führer eines Lehensaufgebotes hin zum Söldner, Söldnerführer und nicht selten auch Kriegsunternehmer großen Stils. Abgesehen von der reinen, ­allerdings bereits risikoreichen Truppenführung umfasste eine solche Tätig­keit die ­Rekrutierung, Ausstattung, Bezahlung, Unterhaltung etc. der angeworbenen Krieger und deren möglichst profitable Vermarktung, also auch ein geschäftlich-­unternehmerisches Geschick, das durchaus mit traditionellen Lehenspflichten kollidieren konnte – aber nicht musste, wenn man in »ausländische« Dienste trat und fernab der Heimat diese Dienste verrichtete – und das den Anbieter auf alle interessanten Kriegsschauplätze Europas und der übrigen Welt führen konnte. Der Einstieg ins Truppengeschäft war bei nicht wenigen dieser Unternehmer von Stande mit einem erweiterten, teilweise – wie bei Albrecht von Wallenstein, aber auch bei (nieder-)adeligen Anbietern kleineren Formats, wie aus dem Beitrag von Michael Weise zu den adeligen Kroatenobristen im Dreißigjährigen Krieg hervorgeht – umfassenden Angebot der Militärdienstleistungen verbunden, sofern man sich nicht auf bestimmte Dienstleistungen im Bereich des »Kleinen Krieges« spezialisiert hatte. Während solche spezialisierten Anbieter eher auf Provisionsbasis engagiert wurden, vermochten die Unternehmer großen Stils mit einem breitgefächerten Angebot bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ihre herrschaftlichen Rechte – wie etwa an Mühlen, Bergbau oder Hammerwerken – unternehmerisch einzubringen, und über die kostengünstige Produktion einträgliche Profite zu machen. Dies war nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass sie nach dem Dreißigjährigen Krieg zumeist aus dem fürstlichen Stand stammten und als sogenannte Armierte Reichsstände die Sicherheitspolitik im Reich maßgeblich mitbestimmten, insofern sie – mindestens während des Pfälzischen Krieges 1688 bis 1697 – im Namen des Reiches die Sicherheitslage selbst definierten. Christoph Kampmann kommt daher zu dem Schluss, dass »Prozesse der Versicherheitlichung [...] entscheidend zur Herausbildung einer neuen Schicht fürst­licher Militärunternehmer im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation ­beigetragen« hätten. Marktstrategisch betrachtet, schufen die Armierten Reichsstände auf der Basis einer extern gegebenen Herausforderungslage eine Situation, in der andere Marktteilnehmer das »Angebot« und die vorhandenen Marktstrukturen nicht ablehnen konnten. Gleichzeitig zementierten die Armierten Reichsstände auf diese Weise Sicherheitsstrukturen, die über Jahre hinaus gültig waren und ihnen neue Profitmöglichkeiten boten. Sicherheitspolitik und Versicherheitlichung konnten demnach bereits in der Vormoderne nicht ohne diese ökonomische Komponente interpretiert werden.
Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass der alteuropäische Adel sich selbstverständlich nicht im alltäglichen Einzelhandel engagierte. Das konnte weder aus adelsideologischen Gründen noch aus Gründen der Lukrativität in seinem Interesse sein. Sehr wohl jedoch hatte er aus beiderlei Perspektive ein Interesse am Unternehmen großen Stils. Schließlich warf dieses potentiell hinreichende Gewinne ab und war zudem mit der Aura des heroischen Wagemuts verknüpft. Dabei war es in diesem Horizont beinahe gleichgültig, ob der betreffende Akteur ökonomisch erfolgreich war oder nicht; die Tat und das Risikowagnis zählten. Dies galt jedenfalls für sämtliche Überseeprojekte und Expeditionen in die neuen Welten, und es galt für den europäischen Adel gleich welchen ständischen Rangs, wie sich aus dem Fallbeispiel des Hanauer Grafen Friedrich Casimir ergibt. Er scheiterte zwar mit dem Kolonialprojekt Hanauisch-Indien 1669, weil es ihm an Investitionskapital und an innerdynastischem Vertrauen fehlte, was zu seiner faktischen Entmachtung führte, doch hielt ihn das nicht davon ab, diese in jeder Hinsicht fehlgeschlagene »Eroberung Surinams« vieldeutig bildhaft zu inszenieren.
Als weniger prominent, aber ebenso risikoreich wie visionär erwiesen sich binnenländische Erschließungsprojekte wie Waldrodungen, die nicht selten mit Städtegründungsakten verbundenen Neuansiedlungsprojekte oder Trockenlegungen von ­Sümpfen, wie der Beitrag von Birgit Emich zum Marchese Enzo Bentivoglio aus Ferrara zeigt, der seit 1609 mit seinem Entwässerungsprojekt – der Bonificazione Bentivoglio – Teile der stets vom Hochwasser gefährdeten Po-Ebene rund um Ferrara trockenlegen, die so gewonnenen Flächen agrarisch nutzbar machen und zudem eine entsprechende Infrastruktur aufbauen wollte. Abgesehen von den Anfeindungen seiner lokalen ­Rivalen und Feinde hatte der Marchese dabei über Jahrzehnte mit massiven hydrologischen und finanziellen Problemen zu kämpfen, wobei das Eine aus dem Anderen resultierte. Die innerhalb von zehn Jahren erfolgte Verdoppelung der immensen Kosten konnte trotz bester Kontakte an die Kurie nicht aufgefangen werden. Vielmehr erwies sich, dass sich just die Kontakte zu den Borghese und die Verschränkung der Geschäftsinteressen mit ihnen negativ auswirkten. Was vormals nützlich war, drohte das ganze Projekt und die Position der Bentivoglio ökonomisch wie sozial zu gefährden, ja zu ruinieren. Als abhängiger Klient und selbstständiger Unternehmer im Hochrisikosegment zu agieren, war demnach ein Drahtseilakt, den selbst gutsituierte Akteure nicht immer bewältigten; und dies erst recht nicht, wenn man vom technischen Wissen von Spezialisten abhängig war.
Für solche Unternehmungen war demnach umfangreiches technisch-naturwissenschaftliches Spezialwissen nötig, das in praktische Anwendungen floss, die ihrerseits wiederum zur Generierung kurzfristiger wie langfristiger Profite genutzt wurden oder werden sollten. Neben hydrologischen oder maritim-geographischen Projekten betraf dies auch mathematisches Wissen, wie aus dem Beitrag von Siegrid Westphal zur Klassen­lotterie unter Wilhelm Heinrich von Sachsen-Eisenach (1691–1741) hervorgeht. Begonnen als Versuch zur risikolosen Beseitigung der Staatsverschuldung, endete das Unternehmen im finanziellen Desaster. 1736 erhielt der gebürtige Altenburger Ingenieur Carl Herrmann ein Patent zum Betrieb einer privatwirtschaftlich organisierten, landesweiten Lotterie, die von den Regierungsmitgliedern des Herzogs unterstützt, nicht aber von den Untertanen goutiert wurde. Von Beginn an stand für den Herzog zusammen mit dem Risiko des unternehmerischen Scheiterns auch der Vertrauensverlust bei auswärtigen Geldgebern im Raum, also die Problematik seiner Kreditwürdigkeit bei ausländischen Finanziers und damit die Frage der sozialen Kreditwürdigkeit. Deshalb gab er angesichts der offenkundigen Absatzschwierigkeiten beim Verkauf der Lotterielose seine Zurückhaltung auf und intervenierte mit landesherrlichen Zwangsmaßnahmen. Dies förderte zwar den Absatz, aber auch den Widerstand und zudem nicht die Einnahmen, weil die meisten Lose auf Kredit beim Verkäufer – mittlerweile der ­Landesherr – finanziert worden waren. Am Ende stand 1739 die Einstellung des Projektes, das die mangelnde finanzielle Basis aller Beteiligten offenbarte und auf diese Weise die Kreditwürdigkeit eines ganzen Landes in Mitleidenschaft riss, weil man sich im doppelten Sinne des Wortes verrechnet hatte. Das sachsen-eisenachische Beispiel stellte keinen Einzelfall dar, insofern auch beim hanauischen Kolonialprojekt der regierende Graf zwecks Abbaus der Staatsverschuldung und Eröffnung neuer Wirtschaftsmärkte auf die Expertise eines namhaften Consultants – niemand anderes als Johann Joachim Becher – vertraute, der über beste Kontakte zur niederländischen Westindien-Kompanie verfügte. Doch auch hier erwies sich, dass fachliches Knowhow – ­verstanden als spezifisches Sachwissen und entsprechende Sozialkontakte – ohne eine solide Kapitalausstattung bzw. ohne eine nachhaltige Kreditierung nicht funktionierte.
Als ebenso ambivalent wie nicht selten zwielichtig, dabei in manchen Anwendungsbereichen unverzichtbar und nachweislich effektiv erwies sich die Förderung bzw. die kommerzielle Vermarktung alchemistischen Wissens. Es wurde weniger zur Herstellung von Gold als vielmehr wiederum im Bereich der Waffentechnologie – konkret: beim Kanonenbau, also bei der Entwicklung von metallurgischen Verfahren zur Herstellung von weitreichenden, dabei möglichst leichten, aber möglichst großkalibrigen Geschützen – verwendet. Dieses Geschäftsfeld war keineswegs ausschließlich ein nicht-adeliges, selbst wenn die Zahl der Akteure von Stande überschaubar sein mochte. Und doch bot gerade eben auch dieses Feld die Gelegenheit für Personen von Stande, mit dem (angeblich vorhandenen) Wissen die eigene (Standes-)Position zu behaupten, wie Kolja Lichy am Beispiel des alchemistischen Entrepreneurs Louis de Hatzel aufzeigt. Die »Ökonomie der Ungewissheit« war dabei ein handlungsleitender Faktor, zumal wenn man sich nicht auf die traditionellen Wege und Formen der materiellen Absicherung begeben wollte oder konnte. Die resultierte bereits aus dem Handlungs- und Handelsgegenstand: dem aus dem alchemistischen Verwandlungsprojekt resultierenden Produkt, gleich welcher Art. Doch selbst bei solch zwielichtigen Gestalten wie jenem de Hatzel erweist sich, wie groß der Drang war, aus guten, nämlich materiell-ökonomischen Gründen aus der ungewissen Unternehmer-Rolle herauszukommen, um in die gesicherten Gefilde des Pensionärs zu gelangen.
Reviewing Editor
Annette C. Cremer
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Annette C. Cremer
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Alexander Jendorff
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Alexander Jendorff