Die Macht antiziganistischer Bilder
Nazif Mujić
Mit großer Bestürzung hatten wir unmittelbar vor dem Beginn der Tagung „Antiziganismus und Film“ vom Tod Nazif Mujićs erfahren, der am 19. Februar 2018 aus noch ungeklärten Umständen verstorben ist. Der bosnische Schauspieler, der 1970 im Kanton Tuzla geboren wurde, hatte 2013 auf den Berliner Filmfestspielen für seine Darbietung in Danis Tanovićs Dokumentarfilm Eine Episode aus dem Leben eines Schrottsammlers den Silbernen Bären als bester Darsteller gewonnen.
Mujićs Tod warf ein trauriges Schlaglicht auf das Thema unserer Konferenz: Mujić, der an Diabetes erkrankt war, hatte seinerzeit in Deutschland einen Antrag auf Asyl gestellt, der von den Behörden als unbegründet abgelehnt wurde. Der Schauspieler, Vater dreier Kinder, verstarb in tiefer Armut in seinem Heimatdorf. Während der Film seinerzeit von der Kritik gefeiert wurde, musste dessen Protagonist nach seiner Auszeichnung zurückkehren in eine von Armut und Aussichtslosigkeit geprägte Situation. Dies ist eine bittere und letztendlich tödliche Ironie.
Es ist gut und wichtig, dass Filme wie der von Danis Tanović die oftmals menschenunwürdigen Lebensbedingungen vieler Roma in ihren Heimatländern zeigen. Aber es ist genauso wichtig, dass das nicht folgenlos bleibt. Hier stehen die Politik und ebenso die Kulturschaffenden, und wir alle in der Verantwortung. Der Tod von Nazif Mujić zeigt uns, dass es eine Welt jenseits des Films, jenseits der Berlinale gibt.
Antiziganismus und Film
Es gab und gibt vielfachen Anlass für eine Fachtagung „Antiziganismus und Film“. Der vorliegende Beitrag ist das ergänzte und aktualisierte Grußwort zur Eröffnung der Konferenz, die am ersten Tag in der Bayerischen Landesvertretung in Berlin stattfand. Neu hinzugekommen ist der Teil, der auf eine Spiegel-TV-Produktion Roma: Ein Volk zwischen Armut und Angeberei eingeht, die im August 2019 von SAT.1 ausgestrahlt und die vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma massiv kritisiert wurde. Es sind derartige Bilder vom „Zigeuner“, die in Spielfilmen wie in Dokumentationen immer wieder aufs Neue reproduziert werden und die antiziganistische Stereotype bestätigen und verstärken – im Fall der SAT.1-Dokumentation bis hin zur subtilen Aufforderung zu Gewalt gegen Roma. Genau deshalb war diese Tagung für den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma von großer Bedeutung, um nicht nur Wissenschaftler zu versammeln, um einzelne Filme zu analysieren, sondern um damit gleichzeitig ein Forum zu öffnen, bei dem Filmschaffende, Wissenschaftler und Vertreter der Minderheit zusammenkommen konnten, um die jeweiligen Perspektiven auszuloten. Ebenso wichtig ist für uns der Tagungsband, dessen vielfältige Beiträge auch in den Filmfördereinrichtungen, den Rundfunkräten und Medienanstalten, den TV-Redaktionen und den Filmhochschulen rezipiert werden sollen – das wäre zumindest zu hoffen.
Der Antiziganismus ist älter als der Film. Es verwundert deshalb nicht, dass der Antiziganismus die Geschichte des Films von Beginn an begleitet. Die alten Motive des Antiziganismus, vom Kinderraub in einer Vielzahl von Stummfilmen bis Martin Walsers „Tatort“-Figur wurden und werden weitgehend ungebrochen auch im heutigen Filmgeschäft benutzt. Umso mehr fallen positive Beispiele auf: Eine Braut kommt selten allein (2017) von Buket Alakuş ist ein solches Beispiel, produziert in Deutschland. International sind Filme wie Aferim! (2015) von Radu Jude oder Django – Ein Leben für die Musik (2017) von Étienne Comar noch immer die Ausnahme.
Unmittelbarer Anlass für die Filmtagung im Vorlauf der Berlinale 2018 war der Kinderfilm Nellys Abenteuer, der 2017 im Kinderkanal von ARD und ZDF gesendet wurde und außerdem auch im SWR-Fernsehen. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma hatte diesen Film deutlich kritisiert und als antiziganistisch eingestuft.1 Der Beitrag von Pavel Brunssen geht näher auf diesen Film und die Auseinandersetzung danach ein. Da diese Auseinandersetzung beispielhaft ist für die Art und Weise, wie bis heute das Bild von Sinti und Roma als einer nationalen Minderheit von Medien – und insbesondere vom Film – konstruiert wird, soll auf sie weiter unten nochmals eingegangen werden.
Wenn es um die Darstellung von Sinti oder Roma in Film oder anderen visuellen Medien, wie Fernsehen oder Internet, geht, dann ist eine grundsätzliche Unterscheidung wichtig. Auf den Bildschirmen oder Kinoleinwänden sehen wir in erster Linie Konstruktionen, sei es von „Zigeuner“-Figuren, wie sie in Literatur und Malerei seit Jahrhunderten konstruiert werden, sei es als vorgeblich authentische Dokumentation oder zumindest als vorgeblich authentische Illustration in Filmen wie in TV-Berichten. Das Wort „authentisch“ taucht immer wieder auf, um rassistische Darstellungen und konstruierte Zusammenhänge in Dokumentationen wie in Spielfilmen zu rechtfertigen. Mit der Begründung, die Kamera bilde die objektive Wahrheit ab, und Roma würden eben oftmals so leben, wie die Bilder es zeigen, wurden gleichermaßen die antiziganistischen Konstruktionen im Kinderfilm Nellys Abenteuer wie auch in der auf SAT.1 gezeigten Dokumentation Roma: Ein Volk zwischen Armut und Angeberei erklärt und gerechtfertigt.
Die tatsächlichen Menschen kommen dagegen sehr selten selbst zu Wort – und wenn, dann oft genug in herabsetzenden Bildern oder sie werden in diffamierende Kontexte geschnitten. Nur sehr selten wird die Perspektive der Minderheit aufgenommen und in den Filmen oder Dokumentationen sichtbar. Eine frühe und bemerkenswerte Ausnahme ist der Film Zigeuner sein (1970) von Peter Nestler, mit dessen einführendem Vortrag zur Ethik des Filmemachens unsere Tagung eröffnet wurde.
Die Auseinandersetzung mit TV- oder Filmproduktionen wie der genannten SAT.1-Dokumentation ist für den Zentralrat wie für die Angehörigen unserer Minderheit immer wieder aufs Neue eine Zumutung. Um die oftmals massiv stigmatisierenden und offen rassistischen Konstruktionen in den Filmen zu untersuchen, müssen sie benannt werden und damit werden die Angehörigen der Minderheit selbst unvermeidlich immer wieder in Verbindung mit diesen rassifizierenden Konstruktionen gebracht. Selbst noch das Zurückweisen von solchen Vorwürfen wie die Zuschreibung von Kriminalität oder von asozialem Verhalten fällt als wirkungsmächtiges Bild immer wieder auf die gesamte Minderheit zurück, solange die Analyse sich immer nur und zuerst auf den vom Rassismus vorgegebenen Feldern bewegt. In dieser Debatte wird den Angehörigen der Minderheit wie dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma und seinen Mitgliedsorganisationen zugemutet, immer wieder aufs Neue zu erklären, dass die Minderheit eben nicht kriminell usw. ist. Dabei wird in einem solchen Zusammenhang selbst der Hinweis auf in ihren unterschiedlichen Berufen erfolgreiche Sinti oder Roma als die Ausnahme von der Regel wahrgenommen – die die Regel damit gleichzeitig scheinbar wieder bestätigt.
Sinti und Roma befinden sich so in einer nahezu ausweglosen Situation: Die von den unterschiedlichen Medien – und gerade auch von staatlichen Institutionen – immer wieder reproduzierten rassistischen Stereotype sind gleichermaßen resistent gegen rationale Argumente wie wirkungsmächtig in der Öffentlichkeit. Es verwundert daher nicht, dass genau diese Stereotype immer wieder auch von der Politik eingesetzt werden.
Dabei geht es, angesichts einer zunehmenden Polarisierung in der Gesellschaft, immer wieder darum, in einer heterogenen Gesellschaft Zonen von Homogenität herzustellen, Themen zu schaffen, denen alle Teile der Gesellschaft zustimmen können. „Zigeuner“ sind seit jeher diejenige Minderheit, auf deren Ausgrenzung und Stigmatisierung sich nahezu alle anderen Gruppen und Schichten einer Gesellschaft – einschließlich der Zuwanderer – einigen können. Am Beispiel der Sinti und Roma, vermittelt durch die Konstruktion „Zigeuner“, wird damit gleichzeitig allen anderen Gruppen gezeigt, wie sie behandelt werden, wenn sie sich nicht den Normen und Zwängen der (post-)modernen Gesellschaftsordnung unterwerfen wollen.
Spiegel-TV und SAT.1
Das bereits genannte Beispiel, die Spiegel-TV-Produktion Roma: Ein Volk zwischen Armut und Angeberei belegt diese systematische Ausgrenzung und Stigmatisierung. Die Dokumentation beginnt mit einem Sprechertext, der zwei Ausschnitten unterlegt ist, die aus späteren Sequenzen stammen: „Festnahme eines Clan-Chefs. Seine Roma-Familie soll mehrere Millionen Euro erbeutet haben, durch den Betrug an deutschen Rentnern. Das Geld wurde verprasst.“ Gezeigt wird zuerst, wie eine bewaffnete Polizeieinheit das Haus eines Verdächtigen stürmt. In der direkt folgenden Szene hält ein in offenkundig armen Verhältnissen lebender Mann eine getötete Ratte in die Kamera. Mit diesen beiden Einstellungen ist der wesentliche Gehalt des Filmbeitrags umrissen. Die Filmproduzenten zeigen wohl Ausschnitte der Situation, in der große Teile der Roma-Bevölkerung in Südost-Europa zu leben gezwungen sind, sie zeigen aber nicht deren systematische Benachteiligung als Folge des strukturellen Rassismus und eines zunehmend gewaltbereiten Antiziganismus in diesen Ländern, die ursächlich sind für diese desolate und perspektivlose Situation. Vielmehr wird, während einerseits immer wieder zwischendurch die Lage von armen Familien zwecks „ausgewogener Berichterstattung“ eingeblendet wird, die Ursache für die Armut weiterhin den betroffenen Roma zugeschrieben. Illustriert wird diese Armut regelmäßig durch das Zeigen von Ratten, unterlegt mit Kommentaren wie „Seit 25 Jahren lebt er auf der Halde, zusammen mit Kindern, Enkeln, Schweinen und Ratten“. Armut und Ausgegrenzt-Sein wird so zu einem Wesensmerkmal von Roma, wird zu einem Teil der ihnen zugeschriebenen Lebensweise gemacht.
In gleicher Weise verbindet der Film immer wieder Kriminalität mit Roma, von der Hausdurchsuchung durch schwerbewaffnete Polizeieinheiten bis zur Armutsmigration, die mit Sozialbetrug verbunden wird. Wiederholt werden Kommentare eingesprochen, die gezielt diesen Zusammenhang herstellen: „Wer wie wann zu wieviel Geld kommt, bleibt bei den Roma ein Familiengeheimnis“. Im Kontext einer Familienfeier in Rumänien heißt es: „Die Welt der mittellosen Sozialhilfeempfänger scheint hier so weit weg und ist doch so nah. Unter den Feiernden Roma aus Duisburg.“
So wird ein Szenario entworfen, durch das gleichermaßen die Sicherheit und die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland bedroht erscheint: durch die unhygienischen Verhältnisse, die ebenso als geradezu der Lebensweise von Roma zugehörig ins Bild gesetzt werden, wie durch die Kriminalität, die in Verbindung mit „Armutsmigration“ und „kriminellen Familienclans“ ebenso als abstammungsbedingt dargestellt wird.
Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma hat in seiner Kritik ausdrücklich auf die Nähe der im Film konstruierten Zusammenhänge zu ähnlichen Filmsequenzen in NS-Propagandafilmen verwiesen. Wie im NS-Film über Theresienstadt durchziehen den SAT.1-Film immer wieder Sequenzen, in denen Roma in unterschiedlicher Weise mit Ratten in Zusammenhang gebracht werden, insbesondere die Wohnsituation in den Ghettos in Rumänien wird so charakterisiert. Der Zentralrat hat diesen Film, der sich ohne weiteres in die rassistische Tradition eines Jud Süß, Der ewige Jude oder jenes Nazi-Propagandafilms über das Ghetto Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet (bekannt auch unter dem Titel Der Führer schenkt den Juden eine Stadt) einreiht, bei seinem Treffen im September 2019 mit dem Israelischen Botschafter in Deutschland, Jeremy Issacharoff, zum Thema gemacht.
Auch der Zentralrat der Juden in Deutschland hat eine klare Position bezogen:
Es ist bestürzend und völlig inakzeptabel, dass SAT.1 ausgerechnet in einer Zeit, in der Hass und Hetze gegen Minderheiten in bisher unbekanntem Ausmaß geäußert werden, einen solchen undifferenzierten und von Vorurteilen strotzenden Film über Sinti und Roma ausstrahlt. Hier handelt es sich nicht um eine Dokumentation, sondern um ein übles Zerrbild, das über eine Minderheit verbreitet wird, deren Kultur und deren Leistungen in dem Film völlig ausgeblendet werden. Damit befördert SAT.1 in unverantwortlicher Weise Vorurteile und Ablehnung gegenüber Sinti und Roma.2
Der Zentralrat der Juden in Deutschland wandte sich ebenfalls an die Medienaufsicht mit der Bitte um Prüfung dieses SAT.1-Beitrags.
Der Geschäftsführer von SAT.1, Kaspar Pflüger, antwortete auf die Kritik mit Zurückweisung:
Wir nehmen Ihre Kritik ernst, weisen sie aber zurück. Die Sendung ist ein ausgewogener, journalistisch einwandfreier Bericht über mehrere Familien in Deutschland und Ost-Europa. Sie thematisiert gelungene Integrationsprojekte ebenso wie Armut und unzumutbare Lebensumstände. Sie zeigt, dass Roma auch heute noch diskriminiert und ausgebeutet werden. Sie berichtet über Tradition, Werte und Stolz – aber auch über kriminelle Machenschaften einzelner Großfamilien.3
Es scheint, als ob auch der Geschäftsführung bei SAT.1, wie der Produktionsfirma Spiegel-TV, jegliche Sensibilität dafür abgeht, wie derartige Darstellungen von Sinti und Roma als Minderheit in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden.
Professor Hajo Funke, der auf Anfrage des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma den Film begutachtet hat, resümiert:
Der Film ist schon vom Titel der Sendung her vorurteilshaft. Die Bilder von Ratten bis zur dargestellten Gewalt schüren Angst und potentiell die ohnehin bestehende Gewaltbereitschaft auf der Basis eines entsprechend entfesselten Sozialneids. Der Film ist dazu geeignet – ohne auch nur einmal die Geschichte der Sinti und Roma in Deutschland und in Europa während des Nationalsozialismus zu erwähnen –, diejenige Gruppe, die mit den einer der schärfsten und gröbsten Vorurteile in Deutschland belegt ist, noch einmal mit Vorurteilen, Abwertungen und Demütigungen zu versehen. […] Der Film ist gegen eine Kultur der Achtung und Anerkennung von Minderheiten und ihren Schutz gerichtet und erfüllt alle Kriterien der Volksverhetzung, und es sollte daher geprüft werden, ob man ein Verbot der Weiterverbreitung erreichen kann. 4
Gegenwärtig (Dezember 2019) prüft die Landeszentrale für Medien und Kommunikation (LMK) in Rheinland-Pfalz, zuständig für SAT.1, ob eine Rüge oder Strafe entsprechend den gesetzlichen Regelungen für SAT.1 erfolgen muss. Unabhängig vom Ausgang der Prüfung fordert der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, dass endlich Repräsentanten der Minderheit in den entsprechenden Rundfunk- und Medienräten angemessen vertreten sind. Bislang sind Sinti oder Roma nur im Rundfunkrat des SWR und in der LMK Rheinland-Pfalz vertreten.
Nellys Abenteuer (2016)
Entscheidend für die Wirkungsweise von derartigen Konstruktionen sind nicht allein die mehr oder minder guten Absichten von Drehbuchautoren, Regisseuren oder Produzenten, sondern vielmehr die Wahrnehmung durch die Zuschauerinnen und Zuschauer. Konstruktionen vom „Zigeuner“ werden nicht auf einen neutralen Schirm projiziert, sondern in eine bereits durch vielfach bestehende Bilder vom „Zigeuner“ geprägte Matrix eingebettet. Die einschlägigen Untersuchungen zu Bevölkerungseinstellungen gegenüber Sinti und Roma, wie sie zuerst von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2014 und dann wiederholt von den Universitäten Leipzig und Bielefeld vorgenommen wurden, dokumentieren eine extrem hohe Ablehnung von Sinti und Roma in Deutschland. Antisemitische Einstellungen lagen – bei allen Vorbehalten, was die Dunkelziffer angeht – in der unmittelbaren Nachkriegszeit bei über 50 Prozent und diese Einstellungen sanken dann durch Programme der politischen Bildung und die demokratischen Entwicklungen in Deutschland langsam auf unter 20 Prozent, mit steigender Tendenz in den letzten Jahren allerdings. Die Ablehnung von Sinti und Roma liegt dagegen noch immer bei über 50 Prozent.5
Die Ursachen für diese hohe Ablehnung liegen sicher in der deutschen Nachkriegspolitik, die den NS-Völkermord an den Sinti und Roma leugnete und verdrängte, an der fortgesetzten Sondererfassung durch die Polizeibehörden, und vor allen Dingen auch in der entsprechenden Darstellung in den Medien, vor allem der Printmedien. Die heute produzierten Filme werden in diesen bestehenden Kontext von Vorurteilen und Rassismus, Stigmatisierung und gezielter Politik eingeordnet, es genügen einzelne Bilder, um die entsprechenden Zuordnungen aufzurufen. Gerade gute gemeinte Filme wie Nellys Abenteuer transportieren – eingebettet in eine Geschichte, die von sympathischen Darstellern und Darstellerinnen gespielt wird – die altbekannten Vorurteile und rassistischen Stigmatisierungen und tragen so zur Rechtfertigung dieser Stigmatisierungen in erheblichem Maße bei.
Dieser Film wurde von einer Reihe deutscher Filmfördereinrichtungen aus Steuermitteln nicht unbeträchtlich kofinanziert. Weder die Jurys der Filmförderung noch die Redaktionen bei SWR oder KIKA bemerkten das Potential antiziganistischer Stereotype. Diese wurden auch von der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen e. V. (FSF) nicht bemerkt, sondern im Gegenteil gerechtfertigt. So erklärt deren seinerzeitiger Geschäftsführer, Prof. Joachim von Gottberg, dass die bevorstehende Zwangsheirat einer der jungen Roma-Protagonistinnen im Film „kulturelle Unterschiede deutlich“ mache, und es gehe „nicht um Stigmatisierung, sondern eher um den Versuch des gegenseitigen Verständnisses.“ Dies ist jedenfalls für einen ehemaligen Vizepräsidenten des Deutschen Kinderhilfswerks eine erstaunliche Einschätzung.
Auch Prof. Joachim von Gottberg attestiert sich selbst wie den Filmförderern und den Medienanstalten, die den Film zeigten, dass ihre „Sensibilität […] gegenüber Rassismus oder der Bedienung von Vorurteilen gegenüber ethnischen Minderheiten sehr groß ist.“ Gleichwohl verteidigt er die gezeigten Stereotypen und Vorurteilsmuster als Mittel, Vorurteile aufzubrechen. „Der Film folgt einem bekannten Muster: Vorurteile lassen sich nicht bekämpfen, indem man sie tabuisiert und ignoriert.“ Da am Ende die beiden jungen Roma, die zuerst die Heldin Nelly bestehlen, ihr dann aber helfen, werde so „beim Zuschauer das Vorurteil auf[gebrochen], Roma seien generell gewissenlose Diebe“. Was tatsächlich bleibt ist, dass diese beiden jungen Roma keine „gewissenlosen Diebe“ sind, wohl aber Diebe bleiben – der Film zeigt keine Entwicklung der Roma-Figuren.6
Im Übrigen folgt der Film den bekannten Mustern. Egal wie unglaubwürdig die Geschichte erscheinen mag, wenn nur am vermeintlich „authentischen Ort“ gedreht wird, mit „authentischen“ Roma-Darstellern in den (Neben-)Rollen, dann kann der Film nur „authentisch“ und damit der Kritik enthoben sein. Dabei, und das ist an dieser Stelle ausdrücklich festzuhalten, sind es nicht nur einzelne Bilder, die diesen Film als dezidiert antiziganistisch zu kritisieren machen. Es ist der von den Drehbuchautoren Uta Kolano und Jens Becker bewusst gewählte Plot, der auf die Differenz zwischen deutschem Mittelstandskind und fremden Roma setzt, der, wie Drehbuchautor Becker es formulierte, die „Fallhöhe“ für den Spannungsaufbau braucht und diese „Fallhöhe“ gezielt durch die Darstellung von kriminellen Roma herstellt. Ein Zusammentreffen mit Romakindern aus der Mittelschicht oder Akademikerkreisen, wie sie in Hermannstadt ohne weiteres auch zu finden gewesen wären, hätte diesem Anspruch an „Fallhöhe“ nicht genügt. Mit anderen Worten, es ging in erster Linie nicht darum, Vorurteile aufzuzeigen, um sie dann zu widerlegen, sondern es ging um Spannung im Film, die durch den Kontrast zwischen deutschem Mittelstandskind und bewusst und gezielt als kriminell charakterisierten Romakindern und deren als massiv kriminell konstruiertes soziales Umfeld hergestellt werden sollte.
„Ohne moralische Haltung ist das Filmemachen wertlos“
Peter Nestler hat seinen Vortrag unter den Titel gestellt: „Ohne moralische Haltung ist das Filmemachen wertlos“. Das ist in sehr kurzen Worten der Kern unseres Problems. Filme sind in gewisser Weise ethische Modelle, die die tatsächlichen oder sonst wie erworbenen Erfahrungen des Menschen durch die Fiktion des Films erweitern oder bestätigen.
Hier gibt es nun die Position, dass es nicht zulässig sei, aus der Moral (oder aus der fehlenden Moral) eines Films einen direkten sozialen Effekt abzuleiten. Mit anderen Worten: Vorurteile im Film würden keine Vorurteile produzieren. Die Zuschauer seien sich in der Regel bewusst, dass es sich eben um einen Film handele. Ich meine aber, dass selbstverständlich in Filmen die Erfahrungen – oder eben auch unsere Vorurteile –, die wir im tägliche Leben machen, dann aufgerufen und verstärkt werden, wenn wir sie im Film widergespiegelt sehen. Die Macht der Bilder wird hier eher noch verstärkend wirken.
Gerade bei Filmen über Sinti und Roma kommt noch hinzu, dass die Unterscheidung zwischen Fiktion und Dokumentation oft aufgehoben wird: In Spielfilmen werden scheinbar „authentische“ Szenen eingebaut, an „echten“ Orten, und – in den Nebenrollen – mit „echten“ Roma. Damit entwickelt sich eine Form von „Wahrheit“, die aber allein die Wahrheit derjenigen ist, die den Film produzieren, die das Drehbuch schreiben und die Regie führen. Auf diese Art finden sich dann antiziganistische Strukturen in vielen Filmen wieder, die wir aus dem Alltag, aus den Medien oder der Literatur seit jeher kennen. Filme wie Jud Süß oder die Filme von Leni Riefenstahl haben genau diesen Mechanismus benutzt, um Juden und unsere Minderheit allein aufgrund ihrer Abstammung nicht nur aus der deutschen Gesellschaft auszugrenzen, sondern ihnen damit das Mensch-Sein abzusprechen.
Deshalb ist für uns diese erste Tagung zum Thema „Antiziganismus und Film“ so wichtig, denn um diesen Kreis aus seit Jahrhunderten tiefverwurzelten Vorurteilen und der dauernden Wiederkehr der Produktion von Vorurteilen zu durchbrechen, braucht es den moralischen Blick vor allen Dingen auf Seiten derer, die Filme machen. Das bedeutet, dass Filme nicht allein nach Kriterien der Wirtschaftlichkeit, der Spannung oder der Exotik gemacht werden können. Sie müssen sich auch auf der ethischen Ebene begründen lassen können, und sie müssen sich gegebenenfalls der Frage nach einer Begründung stellen.
An dieser Stelle muss an die Fassbinder-Kontroverse um das bis heute umstrittene Theaterstück Die Stadt, der Müll und der Tod erinnert werden. Dieses Stück wurde erst 2009 in Deutschland uraufgeführt, in Frankfurt am Main kam die Aufführung 1985 wegen massiver Proteste von Seiten der Jüdischen Gemeinde nicht zustande. Ursache für die Proteste waren die im Stück zweifellos enthaltenen eindeutig antisemitischen Charaktere und Klischees. Die Filmförderung verweigerte aus diesem Grund die beantragten 600.000 DM für die Verfilmung des von Rainer Werner Fassbinder bereits fertiggestellten Drehbuches. Im Unterschied dazu wurde der Kinderfilm Nellys Abenteuer aus dem Jahr 2016, der die gleichen jahrhundertealten Vorurteile und Klischees gegenüber Sinti und Roma transportiert, mit über 935.000 Euro von den deutschen Filmförderanstalten kofinanziert.
Es geht hier, um auch dies deutlich festzuhalten, nicht darum, dass der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma seine Positionen als verbindlich versteht, es geht ausdrücklich nicht um eine Vorzensur von Filmen über Sinti und Roma. Es geht uns darum, gerade auch mit dieser Tagung, einen offenen Dialog zu etablieren. Es geht uns im Kern darum, die Würde aller Beteiligten – und vor allem derjenigen, die sich in einer wenig machtvollen Position befinden – unbedingt zu wahren.
Das wiederum bedeutet, dass es Inhalte gibt, die nicht zu rechtfertigen sind, nämlich dann, wenn sie gegen die Würde von einzelnen Personen oder Gruppen gerichtet sind, oder wenn sie sich gegen demokratische und rechtsstaatliche Prinzipen wenden. Damit wären unter anderem antiziganistische Inhalte erfasst, und wir müssen immer wieder neu und gemeinsam reflektieren, wo hier gegebenenfalls Grenzen zu ziehen wären.
Es sind außerdem aber auch die Medien selbst, insbesondere das Fernsehen und die öffentlich-rechtlichen Anstalten sowie die Filmfördereinrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland, die hier gefordert sind. Die Filmfördereinrichtungen und die öffentlich-rechtlichen Anstalten müssen sich fragen lassen, welches Bild sie von der Minderheit der Sinti und Roma vermitteln, und wo gegebenenfalls gerade die öffentlich-rechtlichen Anstalten eine besondere ethische Verantwortung haben.
Die Fragen, die während der dreitägigen Tagung im Februar 2018 in Berlin diskutiert wurden, waren und sind nicht einfach zu beantworten. Aber der Schutz von Minderheiten gehört zum Grundbestand unserer Demokratie und unseres Wertesystems, und entsprechend kann und muss sich dies auch im Bereich der Medien niederschlagen.
Die Tagung „Film und Antiziganismus“ ist für den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma von großer Bedeutung, und ebenso wichtig ist für uns die Dokumentation der Tagung, die mit diesem Band vorgelegt wird. Ich danke allen, die diese Tagung und den Tagungsband möglich gemacht haben. Dank gilt der Bayerischen Vertretung in Berlin und damit deren damaligem Bevollmächtigten, Dr. Rolf-Dieter Jungk, wo die Tagung mit einem ersten Fachgespräch eröffnet wurde. Dank an die Kooperationspartner der Gesellschaft für Antiziganismusforschung und der Forschungsstelle Antiziganismus am Historischen Seminar der Universität Heidelberg sowie goEast – dem Festival des mittel- und osteuropäischen Films. Dank für die vielfältige Förderung durch die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien, das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Programms „Demokratie leben!“, die Freudenberg Stiftung, die Amadeu Antonio Stiftung und die Open Society Foundations. Großer Dank dann vor allem den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung für ihre bemerkenswerten Beiträge. Dank insbesondere an die Herausgeberinnen und Herausgeber sowie an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von heiUP (Heidelberg University Publishing) für den Tagungsband.
Die Macht antiziganistischer Bilder
Nazif Mujić
Antiziganismus und Film
Spiegel-TV und SAT.1
Nellys Abenteuer (2016)
„Ohne moralische Haltung ist das Filmemachen wertlos“