Musiktheater im höfischen Raum des frühneuzeitlichen Europa. Hof – Oper – Architektur
27 Feb 2020
DOI: 10.17885/heiup.469
»Meisterstücke der Erfindung« und konkrete Wirklichkeit: Inszenierung herrschaftlicher Räume im Bühnenbild. Carlo Galli Bibienas Entwürfe für Bayreuth
Bühnenbilder waren von Beginn an ein wesentliches Element in der Aufführungspraxis der Opera seria. Zahlreiche Skizzen, Zeichnungen und Ricordi ermöglichen auch heute noch einen guten Einblick in die damalige Situation. Vielfach lassen sich die Entwürfe in die allgemeine Bühnenbildtypologie einreihen. Oft aber ist nicht bekannt, ob und dann um welche konkrete Inszenierung es sich handeln könnte. Anders liegt der Fall bei den Aufführungen, die im Markgräflichen Opernhaus von Bayreuth auf der Bühne gezeigt wurden. Hier war Carlo Galli Bibiena im ersten Jahrzehnt für die gestalterische Seite verantwortlich. Viele seiner Entwürfe konnten inzwischen zusammengetragen und zugeordnet werden.1 Dadurch ist mittlerweile ein recht guter Einblick in die optische Ausgestaltung der Bühnenstücke möglich, was wiederum einen präziseren Blick auf die Wirkung und Aufgabe der Bühnenbilder erlaubt. In manchen Fällen gehen sie nicht nur merklich über das allgemeine typologische Repertoire hinaus, sondern beziehen die reale fürstliche Umgebung mit ein. Dadurch wiederum wurde die imaginäre Verbindung zwischen dem mythologischen bzw. historischen Herrscher und Held der Oper sowie dem Fürsten im Bild gegenwärtig.
Markgräfin Wilhelmine, das Markgräfliche Opernhaus und Carlo Galli Bibiena
Die ersten Auftraggeber, denen Carlo Galli Bibiena gegenüberstand, waren das Markgrafenpaar Friedrich und Wilhelmine von Bayreuth. Im Vordergrund stand dabei die Markgräfin, in deren Händen seit 1737 die Leitung der Oper lag. Sie war sowohl mit dem Engagement geeigneter Sänger und Musiker befasst als auch an der Auswahl der Opern maßgeblich beteiligt. Für einige schlüpfte sie in die Rolle der Librettistin, womit sie auch direkten Einfluss auf die Bühnengestaltung gewonnen hat. Auch war sie in einigen Fällen als Komponistin tätig.2 Zunächst herrschten eher bescheidene Verhältnisse, was sich mit dem Bau des Markgräflichen Opernhauses radikal ändern sollte, dessen Errichtung sich mit der Verlobung der Tochter Friederike und Herzog Carl II. Eugen von Württemberg 1744 am Horizont abzeichnete.
Der Bauplatz des neu zu gestaltenden Hauses lag außerhalb der Stadtmauer, am Fuße des Schlossbergs unweit des Alten Schlosses, und war zudem Ausgangspunkt einer systematischen Stadterweiterung. Es gab kein vergleichbares Gebäude in der knapp 5000 Einwohner zählenden Stadt, in seiner Größe wurde der Komplex nur vom Alten Schloss selbst und von der gotischen Stadtpfarrkirche übertroffen. In etwa die gleichen Dimensionen hatte dann nur noch die zeitgleich zum Opernhaus errichtete markgräfliche Reithalle. Im Jahr seiner Fertigstellung 17483 bildete das Opernhaus den würdigen Rahmen der mehrtägigen Hochzeitsfeierlichkeiten. Als Architekt wurde Giuseppe Galli Bibiena gewonnen, der zu dieser Zeit bereits am kursächsischen Hof in Dresden tätig war. Er kam 1746 zusammen mit seinem Sohn Carlo nach Bayreuth, wo dieser ihn zunächst beim Ausbau des Logentheaters unterstützte. Während Giuseppe nach Beendigung der Bauarbeiten nach Dresden zurückkehrte, blieb Carlo am markgräflichen Hof. In den nächsten acht Jahren, bis 1756, zeichnete er hier als »Dekorationsinspektor« für die Inszenierungen im Opernhaus verantwortlich, entwarf die einzelnen Verwandlungen, betreute deren Ausführung durch die Theatermaler sowie er auch an den jeweiligen Aufführungstagen die Einrichtung der Bühne betreut haben dürfte.4
Ezio: das Eingangsbild – ein »Meisterstück der Erfindung«
Am Beginn von Carlos künstlerischem Schaffen in Bayreuth steht das Bühnenbild: »Ein offener Gang mit Statuen besetzet«. Es war das Eröffnungsbild des Dramma per musica Ezio, das in Bayreuth in einer abgeänderten Fassung des Librettos von Pietro Metastasio auf die Bühne gebracht worden war.5 Der antike Feldherr Ezio steht im Mittelpunkt der Handlung, die in Rom spielt. Verwickelt in Liebeshändel, fällt er schließlich einer raffiniert eingefädelten Intrige zum Opfer.
Die Reinzeichnung des Entwurfs für die erste Verwandlung befindet sich noch heute in Bayreuth. Durch die Bezeichnung unten rechts: »les fils Carolus Bibiena inventor […] delineavit […]« ist das Blatt Carlo zugewiesen (Abb. 1).6 Geradeaus blickt man in eine großzügige, zweistöckige Halle mit einfachem Grundriss. Das ganze Augenmerk hat Carlo auf die Wandgestaltung gelegt: Kannelierte Säulen auf hohen Podesten stützen weit vorkragende Gebälkansätze, auf welchen ihrerseits gedrehte und mit Blättern umwundene Säulen stehen. Mächtige Konsolen schließlich leiten zur prachtvollen, aufwändig ornamentierten Decke über. Statuen auf Podesten und auf nach vorne ausschwingenden Balkonen runden das Bild ab. Rückwärts begrenzt wird die Halle von Balustraden. Sie sind mit Waffentrophäen geschmückt und leiten in eine anschließende, mehrstöckige Halle über, die sich mit einer großen Arkade in die nächstfolgende öffnet.
Auf der Rückseite von Carlos Entwurf ist eine interessante Bemerkung des ersten Besitzers zu lesen: »Anno 1748 bey Einweihung des neuerbauten prächtigen Opern Hauses zu Bayreuth machte dieses Meister Stück der Erfindung des berühmten Bibienna, die erste Decoration. Miedel ein Freund des großen Künstlers und Zeit Genoß jener schönen Tage meiner guten Vatterstadt.«7 Der Bayreuther Landschaftsrat Johann Adam Miedel spricht mit der Charakterisierung des Bühnenbildes als »ein Meister Stück der Erfindung« im Kern die Erwartung aus, die an ein Bühnenbild im 18. Jahrhundert gestellt wurde, nämlich äußerst spektakuläre Bühnenräume zu entwickeln, die den Opernbesucher in ungeahnte und unbekannte Welten entführte. Bühnenraum und Zuschauerraum wurden als eine Einheit verstanden, verbunden durch das Bühnenportal als Spange. Das Bühnenbild ist nichts weniger als eine Antwort, ja ein optisches Gegengewicht zum Zuschauerraum, der durch die zur Schau gestellte architektonische Raffinesse in vielen Fällen noch übertroffen wird.
Carlo öffnete den Bühnenraum, einem Programmbild gleich, in voller Höhe und Breite des Bühnenportals und griff dessen Dimensionen auf. Der in dunklerer Tinte gehaltene Vordergrund wird durch die Säulenpaare in drei Abschnitte gegliedert, die auf der Bühne durch drei Kulissen mit den dazugehörigen Soffitten umgesetzt wurden. Die Hallen im Hintergrund sind architektonisch deutlich gesteigert, in der Farbigkeit aber merklich reduziert, womit angedeutet ist, dass dieser Bereich als gemalter Abschlussprospekt ausgeführt worden war. Hier treffen sich die Fluchtlinien in einer Art Triumphbogen, der im Aufbau der Fürstenloge ähnelt. So wie die Operngäste, die in den Rängen Platz genommen haben von den Gästen auf der gegenüberliegenden Seite gespiegelt werden, so findet die Fürstenloge in diesem Triumphtor ihr Pendant – und diese beiden Pole wiederum konnten von den Rängen aus gleichberechtigt in den Blick genommen werden, begünstigt durch den glockenförmigen Grundriss des Zuschauerraumes.8
Mit Ezio wurde am 23. September 1748 das Markgräfliche Opernhaus glanzvoll eröffnet. Man kann sich recht gut in die damalige Situation hineinversetzen: Der Eindruck, der sich den Hochzeitgästen geboten hat, dürfte überwältigend gewesen sein. Zunächst haben sie nach und nach im Zuschauerraum in den Rängen Platz genommen. Er wurde durch Kerzen beleuchtet, deren Licht von unzähligen Goldpunkten schimmernd reflektiert wurde. Nachdem das Markgrafenpaar eingetroffen war, in der Fürstenloge Platz genommen hatte und mit Fanfarenklängen von den Trompeterlogen aus begrüßt worden war, hob sich der Bühnenvorhang. Der Blick schließlich in den Bühnenraum mit seiner übersteigerten Pracht dürfte alle Erwartungen übertroffen haben.
Noch einmal hat Carlo in Grundriss und Anlage auf die Halle des Ezio zurückgegriffen. 1753 wurde am 10. Mai das Dramma per musica Semiramis anlässlich des Geburtstags des Markgrafen aufgeführt und eine Woche später wiederholt. Das 7. Bild (III. Akt, 1 Szene) sollte einen »Saal« darstellen (Abb. 2).9 Hier stehen nun glattwandige Säulen auf niedrigen Sockeln, lediglich akzentuiert von ionischen Kapitellen. Wieder tragen sie vorkragende Gebälkstücke, auf welchen einfache schmucklose Konsolen ruhen, die die mit Profilleisten untergliederte Kassettendecke stützen. Im Hintergrund öffnet sich der Raum mit einem Triumphmotiv in eine zweite Halle, von der aus schließlich Säulengänge weit in die Tiefe fluchten. Die Vereinfachung der Komposition, vor allem was den architektonischen Aufbau und den Dekor anbelangt, kann durchaus als Ankündigung eines zurückhaltenderen Stilempfindens gewertet werden und rückt das Blatt gleichzeitig in die Nähe des »Sonnentempels« (Abb. 3), den Carlo ebenfalls für diese Oper entworfen hat.
Hallen und Säle: Die Marke Galli Bibiena und Carlos Verbindung zur Familientradition
Raffinierter in der architektonischen Erfindung dagegen sah das 3. Bühnenbild der Semiramis aus (I. Akt, 9. Szene). Es zeigt eine »Galerie, die zu vielen Zimmern führet« (Abb. 4).10 Carlo wählte hier die Winkelperspektive, eine Technik, die von seinem Großvater Ferdinando für die Bühne fruchtbar gemacht worden war. Schräg von der Seite blickt man in eine zweistöckige Halle. Linker Hand öffnet sie sich in einer beide Stockwerke umfassenden Arkade zum Hof, an der Längsseite dagegen gelangt man durch eine Doppelarkade in das Innere des Palastes. Durch die scena per angolo wird nicht nur die Ausschnitthaftigkeit der Architektur betont, Carlo setzt sie auch ein, um räumliche Großzügigkeit zu evozieren und ein dynamisches Raumempfinden zu unterstreichen.
Die festlich ornamentierte Halle ist der Ort für den großen Auftritt der assyrischen Herrscherin. Hier beschließt sie, den von ihr in Auftrag gegebenen Gattenmord zu sühnen, in dem sie den einst von ihr gedungenen Mörder, Prinz Assur, töten lassen will. Wieder zeigt sich Carlos Neigung zur Versachlichung und zur Zurückdrängung malerischer Werte, die sich in den vielen leeren Flächen an Podesten, Säulen oder Pilastern manifestiert. Hinzu kommen die saubere Federführung und eine kaum die einzelnen Architekturelemente übergreifende Lavierung.
Der Typus der großen festlichen Halle findet sich vielfach im Werk der Familie Galli Bibiena und wurde in allen Generationen verwendet. In Wien werden zwei imposante Blätter aufbewahrt. Das eine wird Carlos Vater Giuseppe zugeschrieben (Abb. 5).11 Hier ist die tonnenüberwölbte Halle, die sich in drei Arkaden in das Palastinnere und zum Treppenhaus öffnet, Schauplatz für den fröhlich ausgelassenen Einzug eines fürstlichen Paares. Auch sein Bruder Antonio – Carlos Onkel – hat in ganz vergleichbarer Weise eine aufwändig ausgezierte Hallenarchitektur entworfen (Abb. 6).12 Wieder blickt man schräg von der Seite in einen offenen Eingangsraum, der sich über Arkaden öffnet, durch die der Blick an der Palastfront entlang ins Freie geleitet wird. Beiden Entwürfen gemeinsam sind die Grundstruktur wie auch die vielfachen Überschneidungen, durch die interessante Ein- und Ausblicke entstehen und die die einzelnen Architekturelemente, allen voran Säulen und Bögen, dicht gedrängt erscheinen lassen.13 Auch in einem sehr viel später entstandenen Leinwandbild hat Antonio dieses Kompositions- und Motivrepertoire nochmals verwendet. Als Ort für das Gastmahl des Herodes hat er eine großzügige, mehrfach überkuppelte Eingangshalle gewählt. Wieder wird der Blick in angrenzende Palasthöfe geführt und effektvoll eingesetzte Licht- und Schattenwerte unterstreichen die Unheimlichkeit der Szene.14 Carlos Onkel hat zudem auf eine Komposition zurückgegriffen, die mittlerweile seinem Vater Ferdinando zugeschrieben wird, der zusammen mit seinem Bruder Francesco die Geschicke der Familie in der ersten Generation prägte. Hier zeigt sich eine deutlich entspanntere Darstellung des Gastmahls einer fürstlichen Gesellschaft. Besonders eindrucksvoll ist auch die hoch aufschießende Halle mit den auf Säulen ruhenden Arkadenbögen, die sich in gegenläufige Richtungen öffnen.15
In einem drei Jahre später für die Oper Amaltea 1756 entstandenen Blatt verbindet Carlo das Prinzip der Winkelperspektive mit einer symmetrisch angelegten Komposition (Abb. 7).16 Der große »Saal«, der sich hinter dem weitgespannten Bühnenbogen öffnet, überrascht den Betrachter durch kraftvolle, plastisch ausgreifende Schmuckelemente. Besonders bemerkenswert sind die mächtigen Stützkonsolen, die die Balken der schweren Kassettendecke tragen. Das Zentrum der Komposition wird bestimmt durch einen in den Mittelgrund plazierten Pfeiler. Durch ihn wirkt der Raum zentriert wie auch die Dynamik schräg verlaufender Blickachsen deutlich zurückgenommen ist.
Auch für dieses Kompositionsschema finden sich schon sehr früh Beispiele im Repertoire der Galli Bibiena. Ein mittlerweile Ferdinando zugeschriebenes Blatt, zeigt eine Halle in einem königlichen Palast, über und über geschmückt mit Jagdtrophäen.17 Im Aufbau ganz ähnlich wird auch hier der Raum von Pfeilern geordnet, und auch hier stützen mächtige Konsolen die schwere venezianische Kassettendecke. Allerdings öffnet sich der Raum nicht nach außen, sondern erscheint durch die Vielzahl der Pfeiler vollgestellt. Wiederum von Ferdinando stammt eine temperamentvoll und schnell angelegte Skizze, bei der weitestgehend auf die Festlegung von Details verzichtet wurde (Abb. 8).18 Anstelle der durch die Deckenbalken gebildeten Architrave sind es nun zwei Arkaden, auf denen eine Kuppel aufsitzt. Auch sie werden von einer mächtigen Pfeilerkonstruktion gestützt, die prominent ins Zentrum des Bildes gestellt ist. Zu beiden Seiten öffnen sich angrenzende Räume, linker Hand apsidial geschlossen, und rechter Hand blickt man in einen tonnenüberwölbten Gang. Mit diesem einmal entwickelten Schema, einer zentralen Pfeilerarchitektur, die den Bildraum gliedert, wurden in unendlichen Variationen Architekturbilder geschaffen, in denen der Illusionsraum um eine immer wieder variierende Anzahl von Teilräumen erweitert werden konnte, und wodurch trotz der schräg verlaufenden Achsen auf eine ausgewogene, symmetrisch angelegte Komposition nicht verzichtet werden musste. Von Ferdinandos ältestem Sohn Alessandro befindet sich in München eine Skizze mit vergleichbarem Raumschema, das den Blick in mehrere Palastzimmer ermöglicht.19 Wieder besetzt ein Pfeiler mit auskragenden Voluten die Bildmitte, allerdings stand für Alessandro hier nicht die Entwicklung von Raumtiefe im Vordergrund, vielmehr lag sein Augenmerk überdeutlich auf den bekannten Stützkonsolen und den sich kreuzenden Balken der Kassettendecke.
Zwei Alternativentwürfe für Bayreuth?
Zwei weitere Blätter fügen sich ebenfalls in diese Kompositionsreihe. Im Berliner Kupferstichkabinett befindet sich eine detailliert ausgearbeitete Präsentationszeichnung eines Saals (Abb. 9).20 Anstelle der Konsolen tragen nun Atlantenpaare, die auf kräftigen Pfeilern Platz gefunden haben, die aufwändig gestaltete Kassettendecke. Hier nun aber wurde der Mittelpfeiler mit den zwei Assistenzpfeilern vertauscht und dadurch in den Vordergrund gerückt. Diese Komposition nimmt sich geradezu wie ein Alternativentwurf zu Carlos Blatt für Amaltea von 1756 aus (Abb. 7, siehe S. 517). Durch die größere Motivfülle allerdings wirkt das Blatt noch dichter gedrängt, wie zudem durch die nervöse Strichführung ein flackernder Eindruck entsteht. Die Ähnlichkeit zu Carlos Bilderfindung ist bemerkenswert, und reicht bis zu dem Detail, dass auf beiden Blättern gerahmte Spiegel an den Pfeilern aufgehängt wurden. Zwei Möglichkeiten der Zuschreibung sind denkbar: Entweder handelt es sich tatsächlich um eine zweite Version für Amaltea, womit das Blatt dann Carlo selbst zuzuweisen wäre. Dagegen sprechen allerdings die deutlich unruhigere Zeichnung und die pointierten Hell-Dunkel Effekte, die in den bislang bekannten Zeichnungen von Carlo so nicht zu beobachten sind. Deshalb ist es wahrscheinlicher, dass dieses Blatt von Carlos Vater Giuseppe zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt ausgearbeitet wurde und später seinem Sohn als Vorbild gedient hat. Carlo hat sich an das Kompositionsschema angelehnt, dieses aber gleichzeitig auch verändert, nicht nur was die Stellung der Pfeiler, sondern auch ihren Aufbau betrifft, die wesentlich schlanker und schmaler konzipiert sind.
Auch auf dem zweiten Blatt, das in der Kunstbibliothek Berlin aufbewahrt wird, findet sich noch einmal eine Halle mit Kassettendecke, gestützt von vier gebündelten Säulenpfeilern (Abb. 10).21 Linker Hand wird die Halle um einen in die Tiefe fluchtenden Gang erweitert. Während die Architektur nur zur Hälfte mit wenigen Federstrichen ausgeführt ist und auf Lavierungen verzichtet wurde, sind im Gegensatz dazu die paarweise oder in Gruppen angeordneten Figurinen fein ausgearbeitet und über das ganze Blatt verteilt. Genau diese grazile Art der Figurendarstellung mit gelängten Körpern, kleinen Köpfen, ausgreifenden Armbewegungen und ausschwingenden Stoffsäumen der Frauengewänder findet sich auf zwei Blättern, die Carlo ebenfalls für die Oper Semiramis ausgearbeitet hat, die »Stadt Babylon«22 und der »Sonnentempel« (Abb. 3, siehe S. 513). Die Ähnlichkeiten in der Körperauffassung und in der Gestaltung der Gewänder sind bemerkenswert und legen diesmal den Schluss nahe, dass dieses Blatt Carlo Galli Bibiena zugeschrieben werden kann und auch, dass es zudem in engem Zusammenhang mit den Blättern für die Semiramis steht. Es anzunehmen, dass es sich um einen Alternativentwurf zu der »Galerie, die zu vielen Zimmern führet« handelt (Abb. 4, siehe S. 514). Carlo hatte hierfür eine zweite Lösung erwogen, diese dann aber offensichtlich nicht weiterverfolgt.
Schon anhand der wenigen Vergleichsbeispiele wird schnell deutlich, dass sich Carlo als versierter Vertreter seines Fachs und auch seiner Familie gezeigt hat. Die Mitglieder der Familie Galli Bibiena haben bildliche Äquivalente zu den in den Verwandlungen oftmals stereotyp genannten Bühnenbildern entwickelt. Einmal gefundene Lösungen wurden über die Generationen hinweg weitergereicht und immer wieder modifiziert aufgegriffen. Die daraus resultierende Wiedererkennbarkeit der Bühnenbilder als »bibienesk« war durchaus beabsichtigt und begründet nicht zuletzt bis heute die vielfältigen Zuschreibungsprobleme unsignierter Blätter. Gerade die Wiedererkennbarkeit garantierte den Auftraggebern, dass auch in ihrem Theater Bühnenbilder der »Marke Galli Bibiena« zu sehen waren, ein damals gehandelter Wert. Überall dort, wo die Galli Bibiena beschäftigt waren, haben die Opernbesucher ähnliche Bühnenbilder gesehen, die durch ihre Vergleichbarkeit quasi universell einsetzbar waren. Bühnenbilder der Marke Galli Bibiena bedeuteten äußerste Intensität, erzeugt durch architektonische Überwältigung, die ihrerseits dem zu schaffenden Bühnenraum – dem in der Opera seria geltenden fürstlich-herrschaftlichen Bereich – Ausdruck verlieh. Übersteigerungen und Übertreibungen wurden nicht als Manko wahrgenommen, im Gegenteil, das Verkomplizieren der Architekturen, das Ausreizen der gestalterischen Möglichkeiten galt als Qualitätsmerkmal. Dadurch erschien die Bühnenwelt von den Gegebenheiten des Alltags distanziert und einer höheren Wirklichkeit zugeordnet. Und genau in diesem Sinne bezeichnete Johann Adam Miedel, der mit großem Stolz erfüllt war, »ein Freund des großen Künstlers Bibienna« zu sein, das Eingangsbild für Ezio als ein »Meister Stück der Erfindung«.
Der Sonnentempel im Neuen Schloss der Eremitage: ein Bayreuther Bauwerk auf der Opernbühne
Zurück zur Oper Semiramis im Jahr 1753. Als viertes Bild sollte die Verwandlung einen »Tempel der Sonne« zeigen (II. Akt, 1. Szene) (Abb. 3, siehe S. 513).23 Carlo hat dieses Mal eine verblüffend unaufgeregte Darstellung gewählt. Im Zentrum – in den Bildmittelgrund gestellt – öffnet sich der Sonnentempel auf einem 6-eckigen Grundriss in hohen Arkaden nach allen Seiten, bekrönt von einem Sonnensymbol im Strahlenkranz über der Kuppel. Auf beiden Seiten wird der freistehende Tempel von vorspringenden Gebäudeflügeln flankiert, ohne dass deren Aussehen näher zu bestimmen wäre. Anders als bei den bisherigen Beispielen dominiert hier Leere anstelle von Fülle. Der klar überschaubare Bildaufbau tritt an die Stelle von vielfältigen Überschneidungen und dichtem Gedrängtsein einzelner architektonischer Elemente. Carlos Zurückhaltung ist allein schon deshalb bemerkenswert, da der »Tempel der Sonne« ein besonderer Ort für den Fortgang der Handlung ist. Hier nämlich kündigt sich die entscheidende Wende der Geschichte an. Ein vom Hohepriester verkündetes Orakel besagt, dass der Geist des ermordeten Ninus erst dann zur Ruhe kommen werde, wenn sich die Königin ein zweites Mal mit ihm vermählt haben werde. Am Ende wird sich der Sinn des Spruchs enträtseln: Semiramis wird unerkannt und unwissentlich am Grab ihres Gemahls von ihrem eigenen Sohn Ninias erstochen. Dadurch vereinigt sie sich ein zweites Mal mit Ninus, dessen Tod nun gesühnt ist (III. Akt, 4.–10. Szene).
Weshalb verzichtet Carlo hier so offensichtlich auf architektonische Komplexität, eines der wichtigsten Charakteristika bibienesker Bühnenbilder und dadurch auf die damit verbundene Repräsentationsfunktion der Architektur? Seine gestalterische Zurückhaltung findet ihre Erklärung nicht allein in einer sich in seinem Werk früh bemerkbar machenden klassizistischen Tendenz zur Vereinfachung,24 sondern in der Bayreuther Situation selbst. Als Librettistin war Wilhelmine von Bayreuth auch für die Festlegung der Verwandlungen zuständig. Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass sie für den Wendepunkt des Geschehens ein besonderes Bühnenbild verwirklicht sehen wollte. Nur wenige Jahre vor der Inszenierung der Semiramis entstand das sogenannte Neue Schloss im unweit von Bayreuth gelegenen Park der Eremitage, ein architektonisch ungewöhnliches Ensemble (Abb. 11).25 Verschiedene freistehende Bauglieder sind zu einem in sich geschlossenen Areal zusammengefügt. An zwei geschwungene Flügelgebäude mit vorgelagerten Arkadengängen schlossen sich auf beiden Seiten nicht mehr erhaltene, überkuppelte Volieren an.26 Ihnen folgen wiederum kurvierte, aus Holzlatten gefügte, Treillagengänge, in deren Nischen Steinvasen mit mythologischen Szenen aufgestellt sind. Zusammen umfassen sie ein großes Bassin, in dem sich Tritonengruppen, Fabelwesen und Putten tummeln, aus welchen die Fontänen aufsteigen. Die Anlage kulminiert im Tempel des Sonnengottes Apoll, der sich auf der Kuppel in seinem von einer Quadriga gezogenen Wagen zeigt und sein ihm zu Füßen liegendes Reich überblickt, verkörpert durch die vier Elemente: Feuer ist durch Apoll selbst gegenwärtig, Wasser durch das Bassin, auf die Erde verweisen zahlreiche Orangenbäumchen und die Vögel in den Volieren verkörpern die Luft. Der Hauptzugang zu dem leicht abfallenden Gelände lag dem Sonnentempel gegenüber, unterhalb des Wasserbassins. Einer Grottierung vergleichbar sind sowohl der Sonnentempel im Äußeren als auch die dem Innenhof zugewandten Fassaden der Zirkelbauten mit Glasflussschlacken und Quarzkristallen überzogen. Das sich in ihnen reflektierende Licht lässt die Gebäude transparent und ephemer erscheinen.27
Im Bühnenbild nun hat Carlo den Sonnentempel der Eremitage in reduzierter Form übernommen. Er erscheint als ein nach allen Seiten geöffneter Pavillon, der das Bild dominiert. Der Verzicht auf die Erfindung von Herrschaftsarchitektur, die gerade in ihrer Übersteigerung wirken sollte, wird ersetzt durch eine Replik aus dem konkreten Lebensbereich des Markgrafenpaares. Mit Apoll in der Eremitage wird deutlich auf Markgraf Friedrich angespielt, der als brandenburgischer Apoll die Geschicke seines Landes lenkt. In der Oper nun wird durch das Zitat des Sonnentempels Markgraf Friedrich sehr konkret ins Spiel und Bild gebracht. Der Regent ist nicht nur im Zuschauerraum in seiner Fürstenloge präsent, sondern auch auf der Bühne. Er wird zum »Hohenpriester«, der den Orakelspruch verkündet, durch dessen Erfüllung die Ordnung wiederhergestellt wird. Das Bühnenbild erfüllt mehr als eine ins Bild gesetzte Darstellung allgemein verstandener fürstlicher Machtfülle. Es entsteht eine wesentlich intensivere Verbindung zwischen fürstlichem Auftraggeber und Operninszenierung, die durch das Bühnenbild deutlich aufeinander bezogen werden.28
Nichts als Palmen
Nur ein Jahr später wurde zu Ehren des Besuchs von Friedrich d. Großen die Oper L᾿ Huomo aufgeführt, für die wiederum seine Schwester Wilhelmine das Libretto verfasst hat, ein nach ihren Worten »sujet philosophique«.29 Wilhelmine hat die Handlung aus einer höfisch fürstlichen Umgebung in verschiedene Naturbereiche verlegt, was zu einschneidenden Veränderungen in der Bühnengestaltung geführt hat. Den Auftakt bildet ein Eichenwald (I. Akt, 1. Szene), der sich in eine schreckenerregende Höhle (I. Akt, 2. Szene) verwandelt. Es folgt ein Palmenwald (I. Akt, 5. Szene), dann erscheint nochmals der Eichenwald (I. Akt, 10. Szene). Anschließend öffnet sich das Bild zu einer Gebirgskulisse mit tosenden Bächen, über die Brücken führen (I. Akt, 12. Szene), um sich schließlich in eine Landschaft mit Bergmassiv und Tempel zu verwandeln (I. Akt, 17. Szene), in der zuletzt ein Kristallpalast vor einer Gebirgskulisse zu sehen war (I. Akt, 23. Szene). Im Zentrum der Handlung steht die Auseinandersetzung zwischen dem guten Geist (»bon Génie«) mit dem bösen Geist (»mauvais Génie«). Beiden kämpfen um den Einfluss auf Anemon und Animie, Sinnbilder für den männlichen und weiblichen Anteil der Seele. Sie in Einklang zu bringen, obliegt am Ende, ganz im Sinne der Aufklärung, der Vernunft, verkörpert durch Negioree, Tochter des bon Génie.
Für die dritte Verwandlung »Palmenwald« entwarf Carlo ein spektakuläres Bühnenbild (Abb. 12). Eng gebündelt stehen die Palmen dicht gereiht und bilden 3 in die Tiefe führende Gassen. Durch die Beschränkung auf ein einziges Motiv, den Verzicht auf jeglichen Ausblick und die Vermeidung aller Unregelmäßigkeiten, verleiht Carlo dieser Komposition größtmögliche Intensität und Dramatik.30 Carlos äußerst stringente Bilderfindung kommt allerdings nicht ohne Vorbilder und Anregungen aus. In Braunschweig, wohin eine Schwester der Markgräfin, Philippine Charlotte, verheiratet war und wo Carlo während seiner Bayreuther Jahre auch tätig gewesen sein dürfte,31 befindet sich ein Kupferstich von Nicolas Cochin nach einem Bühnenbild von Giacomo Torelli.32 Torelli verwendete Pappeln, um sie in drei gerade geführten Gassen auf das herrschaftliche Schloss als point de vue auszurichten, wobei auch er die Natur den strengen Gesetzen der Geometrie unterworfen hatte. Gleichzeitig zeigt sich deutlich der Einfluss von Carlos Großvater Ferdinando, bei dem er seine Jugendjahre in Bologna verbracht hatte.33 Zu Ferdinandos Hauptwerken zählt die Ausstattung der Oper Dido Giuliano von 1687, die durch Radierungen überliefert ist: Allen Bühnenbildern gemeinsam sind pointierte Blickachsen, meist verbunden mit dem Prinzip der scena per angolo. Ein Blatt sticht besonders durch die ungewöhnliche Zuspitzung der Perspektive heraus.34 Es werden fünf Gebäude gezeigt, die »Logge terrene« darstellen. Eröffnet wird das Bild von den seitlich gezeigten, weit und steil in die Tiefe fluchtenden Fassaden der ersten beiden Gebäude. Sie bilden gleichermaßen den Rahmen für die zentral in den Mittelgrund gerückte Loggia, die über Eck gestellt, direkt von vorne gesehen wird und deren Sockel und Dachfirste Gegenlinien zu den rahmenden Fassaden bilden. Die Lücken sind gefüllt von zwei weiteren, ebenfalls über Eck stehenden Loggien, die aufgrund ihrer Entfernung allerdings kaum mehr Details zeigen.35 Sicherlich hat Carlo sich bei seinem Entwurf an die über ein halbes Jahrhundert zurückliegende, geniale Erfindung seines Großvaters erinnert, wenn er nicht selbst dessen Radierungen besessen hatte. In seiner Prägnanz, der ungewöhnlichen Perspektivansicht in Verbindung mit der Reduzierung auf ein einzelnes Motiv, nimmt Ferdinandos Blatt Carlos Idee geradezu vorweg.
Darüber hinaus fand Carlo auch in seiner Umgebung motivische Anregungen für die Bühnengestaltung und zwar in den Alleen und Laubengängen der Hofgärten. Die im Sommer schattenspendenden Gänge dienten sowohl als Lauf- und Spazierwege wie sie auch zum Pass- bzw. Mailspiel genutzt werden konnten. Hervorgehoben sei ein im Kern auf die Zeit vor 1745 zurückreichender Laubengang im Park der Eremitage, der den südlichen Kanalgarten auf der Ostseite begrenzt. Durch ihn konnten und können noch heute die weit abgelegenen südlichen Partien des Parkareals erreicht werden. Noch enger mit Carlos Verwandlung verbunden gewesen sein dürfte eine vierreihige Lindenallee bei Kloster Himmelkron (Abb. 13). Die ehemalige Klosteranlage nördlich von Bayreuth wurde im 17. Jahrhundert zu einem Sommersitz für die Markgrafen ausgebaut und im Zuge dieser Arbeiten wurde die etwa einen Kilometer lange Allee 1663 von Markgraf Christian Ernst angelegt.36
Solche Pflanzungen, die noch heute durch ihre Länge und Geschlossenheit beeindrucken, dürften bestimmt auf Carlos künstlerisches Interesse gestoßen sein, umso mehr als sich ihre Gestaltung auf perspektivisch zugespitzte Lösungen wie im »Palmenwald« übertragen ließ.
Die Ungewöhnlichkeit von Carlos Bühnenbild wurde von den Zeitgenossen sofort erfasst, sie konnten sich der Macht solcher Überwältigungsästhetik nicht entziehen. Luigi Crespi, der viele biographische Notizen zu den Mitgliedern der Familie Galli Bibiena zusammengetragen hat, erwähnt in seinem Abschnitt über Carlo gerade dieses Bühnenbild. Ihmzufolge erbat sich Friedrich der Große nach der Aufführung im Markgräflichen Opernhaus eine Zeichnung, einen Ricordo.37 Wie hoch Carlo selbst seine Bilderfindung eingeschätzt hat, mag man daran ermessen, dass er sein Kompositionsschema zu einem unbekannten Zeitpunkt nochmals aufgegriffen hat. Ein ebenfalls in der Morgan Library & Museum befindliches Blatt weist durch die Bezeichnung: »Architetto: Carlo Galli D Bibiena il(s?) inventor: il fecit: il: il:« Carlo als Autor aus. Es zeigt eine langgestreckte Galerie. Den durchfensterten Wänden sind Säulenpaare vorgelagert, auf deren Gebälk Konsolen ruhen, die die Kassettendecke tragen. Wie im Palmenwald fluchtet der Raum entlang der Konstruktionslinien rasant in die Bildtiefe. In beiden Fällen ist der Fluchtpunkt aus der Mitte des Blattes nach links verschoben, so dass die Dynamik noch zusätzlich gesteigert wird.38
Der »Palmenwald« ist aber nicht nur im Hinblick auf seine Komposition interessant. Der Einfall, eine Handlungsepisode in einen Palmenwald zu verlegen, und Carlos Ausführung im Bühnenbild gehen der Einrichtung des Palmenzimmers im Neuen Schloss in Bayreuth voraus (Abb. 14).39 Es handelt sich um eine langgestreckte, raumhoch mit Nussbaumfurnier vertäfelte Galerie. In gleichmäßigen Abständen wurden geschnitzte Palmen appliziert, deren vergoldete Wedel in die Decke ausgreifen. Anders als auf der Bühne konnte der Palmenhain nun tatsächlich betreten werden. Dieser ungewöhnliche Raum, der zwischen den Paradezimmern und den Gesellschaftszimmern des Markgrafen lag, diente der Hofgesellschaft in erster Linie als Speisezimmer, zum Tanz oder Kartenspiel. Außerdem dürfte er, worauf die Verknüpfung der Palme mit dem Salomonischen Tempel hinweist, bei besonderen Anlässen auch als Versammlungsraum für die Freimaurer Loge »Zur Sonne« genutzt worden sein, die Markgraf Friedrich 1741 gegründet hatte.
In der Oper ist der »Palmenwald« der Ort für den Auftritt der verschiedenen Personifikationen der Liebe, wobei die Handlung zunächst eine negative Richtung einschlägt. Die beiden Geliebten Animie und Anémon werden ihrer Tugenden beraubt und voneinander getrennt. Während Animie vom »mauvais Génie« entführt wird, bleibt Anémon zurück und erliegt schließlich dem Werben von Volusie, der leichtlebigen Liebe (I. Akt, 9. Szene). Mit dem Palmenzimmer dagegen verbindet sich eine durchweg positive Aussage: Markgraf Friedrich tritt als Friedensfürst in seinem Reich – dem Palmenhain – auf und sorgt mit Vernunft und Weisheit auf das Beste für seine Untertanen.
Noch einmal zurück in den Park der Eremitage: der Schneckenberg
Zunächst folgt in L᾿Huomo auf den Palmenwald in einer Rückblende nochmals ein Eichenwald (I. Akt, 10. Szene), anschließend aber ändert sich die Szenerie deutlich. Für das fünfte Bühnenbild (I. Akt, 17. Szene) war eine düstere und dramatische Gebirgslandschaft vorgesehen:
»Une chaine de montagne, d᾿ou roulent diverses torrents. Au bas des montagnes un Pont. Sous lequel coule un fleuve, dont l᾿eau est noir et bourbeuse. Il fait nuit.«40
Sie sollte sich im nächsten Bild beruhigen und aufhellen:
»Une montagne, sur laquelle est un temple. Des villages paroissent dans le lontain, et l᾿on voit un autel au pied de la montagne.«41
Das Reich des »mauvais Génie« ist dem des »bon Génie« gewichen. Beide Verwandlungen hat Carlo in einem Bühnenbild zusammengefasst, vermutlich aus praktisch-ökonomischen Gründen. Zu denken ist in erster Linie an eine Kostenersparnis und möglicherweise auch an die begrenzten Möglichkeiten zur Aufbewahrung der Bühnenbilder (Abb. 15).42 Carlo löste das Problem, indem er als Eingangskulissen, dunkel gefärbte, von Bäumen bewachsene Felsen so anordnet, dass sie den heiteren Teil der Szene wie ein Rahmen einfassen und der Blick vom Dunklen ins Helle geführt wird. Damit schafft er ein bildliches Äquivalent für die inhaltliche Gegenüberstellung von Licht und Finsternis, wie sie in den beiden entgegengesetzten Reichen des »mauvais Génie« und des »bon Génie« herrschen. Ein stufenförmig ansteigendes Gebirgsmassiv mit abgerundeten Kuppen bildet den Hauptakzent. Am Fuß steht wie in der Textangabe festgelegt ein Altar, auf dem Gipfel hat anstelle eines Tempels eine Burganlage Platz gefunden. Beide markieren Beginn und Ziel des Weges, der sich gemächlich ansteigend in einer Spirale nach oben windet. Es ist es der Weg, den der »bon Génie« und sein Gefolge nehmen werden, wenn sie von der Höhe herabsteigen, um am Altar der Sonne zu huldigen, die in diesem Moment auf der Bühne aufscheinen soll (I. Akt, 17):
»O! Soleil, que nous adorons, / Donne-nous la force & le courage / Pour vaincre nos Ennemis. / Que la Lumiére détruise les tenebres!«43
Auch für diesen Entwurf nahm Carlo im fürstlichen Umfeld Anleihen. Ein dem Bergmassiv vergleichbares Landschaftsmotiv findet sich im Park der Eremitage. Recht nah am Eingang, linker Hand von der Hauptallee, gelangt man zum Schneckenberg (Abb. 16). Der künstlich angelegte Hügel ist auf einem spiralförmig nach oben führenden Weg begehbar und bot oben angekommen eine gute Aussicht über Teile des Parks. Er dürfte unter Markgräfin Wilhelmine aufgeschüttet worden sein, wahrscheinlich im Zeitraum zwischen 1748 und 1753. Entsprechend seiner Funktion als Aussichtsplattform wurde er 1771 unter Markgraf Alexander von Ansbach-Bayreuth mit einem chinesischen Aussichtspavillon bekrönt.44 Als L᾿Huomo im Markgräflichen Opernhaus zu sehen war, hat der Schneckenberg also bereits existiert und somit ist ein weiteres Mal ein »Bauwerk« aus dem Lebensumfeld der Bayreuther Markgrafen auf die Bühne geholt worden.
Im Vorwort zu Amaltea, der letzten Oper, die zu ihrer Zeit im Markgräflichen Opernhaus zu sehen war, benennt Markgräfin Wilhelmine einem Resümee gleich, die Aufgaben der Oper: »[…] Das Operntheater erfordert etwas Großes in dem Äußerlichen der Vorstellung. Die Augen und das Gemüthe müssen auf gleiche Weise gerührt werden; jene durch das Neue und durch das Wahre in der Nachahmung; dieses durch die Musick, und durch die Schilderung der verschiedenen Leidenschaften, die man aufführt. […].«45 Die postulierte Gleichberechtigung zwischen Musik, Gesang, Schauspiel auf der einen und der Bühnenausstattung auf der anderen Seite spiegelt Wilhelmines eigene Erfahrungen wider und ist gleichzeitig eine Reflexion der gängigen Praxis: der bildlichen Ausstattung der Bühne wurde mit Beginn der Opernentwicklung sofort ein breiter Raum gewährt. Die »Theatralarchitekten« gestalteten opulente, in ihrer Architektur übersteigerte Herrschaftsräume, die zugleich eine ideelle Verbindung zwischen dem Fürsten und dem Helden der Handlung herstellten. Sie sind Ausdruck des von Wilhelmine geforderten »Neue[n]«, Überraschenden auf der Bühne, dem auch die Bayreuther Bühnenbilder entsprochen haben. Wilhelmine selbst unterstreicht die Wertschätzung, die sie der visuellen Ausgestaltung der Oper entgegenbringt, noch einmal dadurch, dass sie für Amaltea gleich neun Verwandlungen festlegte. Am Beispiel der Bayreuther Bühnenbilder lässt sich darüber hinaus nachvollziehen, wie eng die Verzahnung zwischen dem Geschehen auf der Bühne und der Lebenswirklichkeit der Auftraggeber sein konnte. Für das Markgrafenpaar war es sicherlich reizvoll, in der so herausgehobenen Sphäre des Opernhauses im Musikdrama gleichsam sich selbst zu begegnen. Für die geladenen Gäste dagegen reichte die Präsenz der fürstlichen Herrschaft bis ins »Schauspiel« hinein, wie auch das »Wahre« von dem Wilhelmine spricht, damit überprüfbar wurde.
Gestaltet wurden die Bühnenräume von Carlo Galli Bibiena, der sich einmal mehr in die von seiner Familie entwickelte Bildtradition hineinstellte und der zugleich bei aller eigenen Erfindungsfreude Anleihen in der fürstlichen Umgebung nahm, was neben dem künstlerischen Reiz die Erweiterung des imaginierten Raumes um eine nachvollziehbare realistische Komponente mit sich brachte.
Abbildungsnachweise
Abb. 1 | Historisches Museum Bayreuth |
Abb. 2, 10 | Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek |
Abb. 3 | Collection Centre Canadien d’Architecture / Canadien Centre for Architecture, Montréal |
Abb. 4, 7 | Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig |
Abb. 5, 6 | ©Albertina, Wien |
Abb. 8 | Staatliche Graphische Sammlung München |
9 | © Kupferstichkabinett. Staatliche Museen zu Berlin |
Abb. 11 | © Bayerische Schlösserverwaltung, Maria Scherf / Ulrich Pfeuffer, München |
Abb. 12, 15 | The State Hermitage Museum, St. Petersburg |
Abb. 13 | © Babette Ball-Krückmann, Fürstenfeldbruck |
Abb. 14 | © Bayerische Schlösserverwaltung, Andrea Gruber, München |
Abb. 16 | © Bayerische Schlösserverwaltung, Thomas Köhler, Bayreuth |
Literatur
Ball-Krückmann 1998: Ball-Krückmann, Babette: Bühnenbildentwürfe zwischen Barock und Klassizismus. Bemerkungen zur Zeichenkunst der Galli Bibiena, in: Krückmann, Peter O. (Hg.): Galli Bibiena und der Musenhof der Wilhelmine von Bayreuth. Katalog zur Ausstellung im Neuen Schloss Bayreuth, München 1998, S. 116–133.
Ball-Krückmann 2009: Ball-Krückmann, Babette: Carlo Galli Bibiena. Seine Bühnenbilder für das Markgräfliche Opernhaus in Bayreuth. Zwischen Tradition und Lokalsituation, in: Berger, Günter (Hg.): Wilhelmine von Bayreuth heute. Das kulturelle Erbe der Markgräfin (= Archiv für Geschichte von Oberfranken, Sonderband 2009), S. 241–267.
Beaumont / Lenzi 1992: Beaumont, Maria Alice; Lenz, Deana (Bearb.): Meravigliose scene. Piacevoli inganni. Galli Bibiena. Katalog zur Ausstellung im Palazzo Comunale Bibbiena, Bibbiena1992.
Förderkreis 2018: Förderkreis zur Erhaltung und Verschönerung der Kulturlandschaft im Bereich der Gemeinde Himmelkron. https://www.die-lindenallee.de/. [letzter Zugriff am 25.2.2018].
Crespi 1769: Crespi, Luigi: Felsina pittrice. Vite de᾿ pittori bolognesi, Bd. 3, Rom 1769.
Glanz 1991: Glanz, Alexandra: Alessandro Galli-Bibiena (1686–1748). Inventore delle Scene und Premier Architecteur am kurpfälzischen Hof in Mannheim (= Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte E.V., Bd. 69), Berlin 1991.
Habermann 1982: Habermann, Sylvia: Bayreuther Gartenkunst. Die Gärten der Markgrafen von Brandenburg-Culmbach im 17. und 18. Jahrhundert (= Quellen und Forschungen zur Gartenkunst, Bd. 6), Worms 1982.
Hammitzsch 1906: Hammitzsch, Martin: Der moderne Theaterbau. Der höfische Theaterbau, Berlin 1906.
Henze-Döhring 2002: Henze-Döhring, Sabine: Konzeption einer höfischen Musikkultur, in: Niedermüller, Peter; Wiesend, Reinhard (Hg.): Musik und Theater am Hofe der Bayreuther Markgräfin Wilhelmine. Symposium zum 250. Jubiläum des markgräflichen Opernhauses am 2. Juli 1998, Mainz 2002, S. 97–118.
Henze-Döhring 2009 (a): Henze-Döhring, Sabine: Markgräfin Wilhelmine und die Bayreuther Hofmusik, Bamberg 2009.
Henze-Döhring 2009 (b): Henze-Döhring, Sabine: Die musikalische Komposition der Oper L᾿Huomo. Vortrag auf dem Symposium anläßlich der Wiederaufführung von L᾿Huomo: Das musikalische Theater der Markgräfin Wilhelmine, 2. Oktober 2009, Kunstmuseum Bayreuth, https://web.archive.org/...ublikationen/lhuomo.pdf. [letzter Zugriff am 10.8.2016].
Jahn 1990: Jahn, Wolfgang: Stukkaturen des Rokokko. Bayreuther Hofkünstler in markgräflichen Schlössern und in Würzburg, Eichstätt, Ansbach, Ottobeuren, Sigmaringen 1990.
Kelder 1968: Kelder, Diane M. (bearb.): Drawings by the Bibiena family, Katalog zur Ausstellung im Philadelphia Museum of Art, Philadelphia 1968.
Krückmann 1998: Krückmann, Peter O. (Hg.): Galli Bibiena und der Musenhof der Wilhelmine von Bayreuth, Katalog zur Ausstellung im Neuen Schloss Bayreuth. München 1998.
Krückmann 2003: Krückmann, Peter O.: Markgräfliches Opernhaus Bayreuth (= Amtlicher Führer), München 2003.
Krückmann 2011: Krückmann, Peter O. u. a.: Die Eremitage in Bayreuth (= Amtlicher Führer). München 2011.
Küster 2003: Küster, Ulf (Hg.): Theatrum Mundi. Die Welt als Bühne, Katalog zur Ausstellung im Haus der Kunst München, Wolfratshausen 2003.
Lenzi / Bentini 2000: Lenzi, Deanna; Bentini, Jadranka (Hg.): I Bibiena. Una famiglia europea. Katalog zur Ausstellung in der Pinacoteca Nazionale, Bologna 2000.
Müller-Lindenberg 2005: Müller-Lindenberg, Ruth: Wilhelmine von Bayreuth: die Hofoper als Bühne des Lebens, Köln 2005.
Müller-Lindenberg 2009: Müller-Lindenberg, Ruth: Melancholie, Suizid und Herrschaft. Quellen und Kontexte zu einigen Libretti der Wilhelmine von Bayreuth, in: Berger, Günter (Hg.): Wilhelmine von Bayreuth heute. Das kulturelle Erbe der Markgräfin (= Archiv für Geschichte von Oberfranken, Sonderband 2009), S. 173–185.
Rasche 1999: Rasche, Adelheid: ›Decoratore di sua Maestà‹ – Giuseppe Galli Bibiena als Bühnenbildner an der Berliner Hofoper Friedrichs II. von Preussen, in: Jahrbuch der Berliner Museen, NF 41/1999, S. 99–131.
Reus 1999: Reus, Klaus-Dieter (Hg.): Faszination der Bühne. Barockes Welttheater in Bayreuth, Bayreuth 1999.
Simone 2014: Simone, Paola de: La cerere placata di Niccolò Jommelli. innovazione e interazione fra i diversi linguaggi dell᾿arte in gioco tra Napoli e l᾿Europa. Appendice I., Lettera ad un amico, in: Niccolò Jommelli: L᾿esperienza eureopea di un musicista ›filosofo‹. Atti del Convegno internazionale di Studi a cura di Gaetano Pitarresi. Reggio Calabria, Edizioni online del Conservatorio »F. Cilea«, 2014, S. 573–588, http://cilea.altervista.org/...e%20-%20App%201.pdf. [letzter Zugriff am 25.2.2018].
»Meisterstücke der Erfindung« und konkrete Wirklichkeit: Inszenierung herrschaftlicher Räume im Bühnenbild. Carlo Galli Bibienas Entwürfe für Bayreuth
Markgräfin Wilhelmine, das Markgräfliche Opernhaus und Carlo Galli Bibiena
Ezio: das Eingangsbild – ein »Meisterstück der Erfindung«
Hallen und Säle: Die Marke Galli Bibiena und Carlos Verbindung zur Familientradition
Zwei Alternativentwürfe für Bayreuth?
Der Sonnentempel im Neuen Schloss der Eremitage: ein Bayreuther Bauwerk auf der Opernbühne
Nichts als Palmen
Noch einmal zurück in den Park der Eremitage: der Schneckenberg
Abbildungsnachweise
Literatur
Abb. 1
Abb. 2
Abb. 3
Abb. 4
Abb. 5
Abb. 6
Abb. 7
Abb. 8
Abb. 9
Abb. 10
Abb. 11
Abb. 12
Abb. 13
Abb. 14
Abb. 15
Abb. 16
Vgl. hierzu Ball-Krückmann 2009, S. 241–267, mit ausführlichen Angaben und
Literaturverweisen zu den einzelnen Bühnenbildern. Im Anhang findet sich
außerdem eine Auflistung sämtlicher Verwandlungen der Opern, die im
Markgräflichen Opernhaus zwischen 1748 und 1756 aufgeführt wurden.
Umfassende Informationen und weiterführende Literatur zur Opernpraxis am
Bayreuther Hof finden sich bei Müller-Lindenberg 2005 und Müller-Lindenberg 2009
sowie bei Henze-Döhring 2002 und Henze-Döhring 2009 (a).
Die Fassade wurde erst 1750 nach Plänen von Joseph Saint Pierre fertiggestellt.
Ein Entwurf von Giuseppe Galli Bibiena dagegen blieb unberücksichtigt. Vgl.
hierzu Kat. Nr. 282, 283 in: Krückmann 1998.
Zuletzt: Krückmann 2003.
Feder in Braun, laviert, 480 × 670 mm, Historisches Museum Bayreuth.
Zitiert nach Kat. Nr. 294, in: Krückmann 1998.
Wie ernst die enge Verbindung zwischen Zuschauerraum und Bühne gemeint war,
zeigt sich auch in einer Skizze für Artarxerxes, der zweiten
Oper, die während der Hochzeitsfeierlichkeiten in Szene gesetzt wurde. Als
Schlussbild war ein »Luogo magnifico« vorgesehen. Carlo legte mit schnellen
Strichen eine Arkadenarchitektur unter freiem Himmel über einem polygonalen
Grundriss an. Der Zeichnung für Ezio vergleichbar wird der
festliche Charakter vor allem durch die Dichte der Schmuckformen hervorgerufen,
die zugleich Elemente des Zuschauerraumes aufgreifen. Allen voran wieder die
auffällig platzierten Waffentrophäen auf dem Gesims und die mit Blüten- und
Blätterranken umwundenen Säulen, wie auch die seitlichen Trompeterlogen in
abgewandelter Form das Proszenium selbst wiederholen: das Bühnenportal, rechts
und links eingefasst von Trompeterlogen – hier freilich in anderen Dimensionen.
Ball-Krückmann 2009, S. 246–247; Abb. 4.
Feder in Schwarz, braun und blau laviert, 670 × 368 mm; Staatliche Museen zu
Berlin, Kunstbibliothek, Inv. Nr. HdZ 6373. Ball-Krückmann 2009, S. 253–254.
Libretto in der UB Erlangen (EZ II 1135).
Feder in Braun, laviert, 420 × 610 mm; Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum,
Inv. Nr. Z. 167; Ball-Krückmann 2009, S. 250–252.
Feder in Braun und Grau, laviert; Albertina, Wien Inv. Nr. 14400; vgl. Küster
2003, Kat. Nr. 106.
Feder in Grau und Blau, laviert; Albertina, Wien, Inv. Nr. 2556; vgl.
Lenzi / Bentini 2000, Kat. Nr. 66.
Ein Blatt im Szépmüvészeti Múzeum, Budapest, das ebenfalls Antonio Galli Bibiena
zugeschrieben wird, zeigt eine abgewandelte und vereinfachte Form dieses Motivs;
vgl. Lenzi / Bentini 2000, Kat. Nr. 67, Abb., ebd.
Bologna, Collezioni Comunali d᾿Arte, Palazzo Comunale, Inv. Nr. A 843; vgl.
Lenzi 1992, Kat. Nr. 40, Abb., ebd.
Feder in Braun, laviert, 445 × 590 mm; Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum;
vgl. Ball-Krückmann 2009, S. 260–262.
Feder in Braun, 311 × 251 mm; München, Staatliche Graphische Sammlung, Inv.
Nr. 35343b, Nr. 113 recto; vgl. hierzu auch: Lenzi / Bentini 2000, Kat.
Nr. 20.
Feder in Dunkelbraun, braun laviert; 242 × 291 mm; Staatliche Graphische
Sammlung München, Inv. Nr. 35312; vgl. auch Glanz 1991, S. 121–123, Abb. 73.
Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. KdZ 22 725.
Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek, Inv. Nr. HdZ 303.
St. Petersburg, Staatliche Ermitage; vgl. Ball-Krückmann 2009, S. 255–256,
Abb. 11.
Feder in Braun, 322 × 379 mm, Montréal, Collection Centre Canadien
d’Architecture, DR: 1961: 0003; vgl. hierzu Ball-Krückmann 2009, S. 252–253.
Vgl. hierzu Krückmann 2011.
Sie wurden zunächst als Menagerien und Orangerien genutzt; 1753 wurde der
Ostflügel für Markgraf Friedrich in eine Wohnung umgewandelt.
Bemerkenswerterweise ist der Architekt der Anlage nicht bekannt. Schon lange
aber wird vermutet, dass der Entwurf zu diesem Ensemble von Giuseppe und Carlo
Galli Bibiena, die zur Entstehungszeit in Bayreuth anwesend waren, zumindest
beeinflusst, wenn nicht sogar geplant gewesen sein dürfte; vgl. hierzu:
Habermann 1982, S. 128–129. Anregungen dafür gab es im Familienœuvre genug, so
etwa eine Gartenszene, die 1740 in seinem bekannten Werk »Architteture e
prospettive« veröffentlicht hat (Pars III, 7). Von einer Terrasse blickt man in
ein von Skulpturen und Orangenbäumchen gesäumtes Parterre. Den Abschluss bildet
ein geschwungenes zweistöckiges Gebäude mit hohem aufgesetztem Giebelauszug –
kein Sonnentempel, auch das Bassin fehlt. Interessant aber sind die
Flügelbauten, die das Hauptgebäude flankieren. Hier wie dort folgen sie einem
kreisförmigen Grundriss und öffnen sich in hohen Arkaden. Den Abschluss bildet
eine von Pflanzkübeln akzentuierte Balustrade, ähnlich der, die in einer
zeitgenössischen Zeichnung der Eremitage überliefert wird. Vgl. Habermann 1982,
Abb. 78, S. 126.
Noch einmal, vermutlich deutlich später, hat Carlo das Motiv des Sonnentempels
aufgegriffen. In New York, in der Morgan Library & Museum befindet sich ein
Carlo Galli Bibiena zugewiesenes Blatt, das einen Palastinnenhof mit einem
Tempel zeigt, in dem eine Götterstatue aufgestellt ist (Morgan Library &
Museum, Inv. Nr. 1982.75:105; Gift of Mrs. Donald M. Oenslager, 1982. Drawing:
http://www.themorgan.org/drawings/item/187633 [letzter Zugriff
am 25.2.2018]). Diesmal ist die Kuppel wie beim Vorbild der Bayreuther Eremitage
durchfenstert und damit stärker akzentuiert. Dennoch ist nicht anzunehmen, dass
es sich um einen Alternativentwurf für die Semiramis handelt.
Stilistisch steht das Blatt den Bühnenbildern, die Carlo für das Singspiel
Lettera ad un amico von Niccolo Jommelli ausgearbeitet hat,
deutlich näher. Es wurde 1772 anlässlich der Geburt der Tochter von
Ferdinand IV., König beider Sizilien, inszeniert. Besonders auffallend sind die
mit Girlanden umwundenen Säulen, die sich auch in der Darstellung des Palastes
von Zeus wiederfinden. Vgl. Tav. XIII: Scena del Tempio di Giove und Tav. XIV:
Scena della Regia di Giove, abgebildet in: Simone 2014. Vgl. außerdem: Kelder
1968, Kat. Nr. 67. Darüber hinaus ist auf die noch vorhandenen, originalen
Kulissen von Carlo Galli Bibiena im Schlosstheater Drottningholm hinzuweisen;
vgl. Reus 1999, Abb. S. 88.
Libretto UB Erlangen (R.L.63a), S. 5.
Feder in Braun, laviert, 485 x 658 mm; The State Hermitage Museum, St.
Petersburg. Ball-Krückmann 2009, S. 256–259. Sabine Henze-Döring hat in einem
Vortrag die Frage nach der Umsetzung dieses Entwurfs auf der Bühne in den Raum
gestellt, freilich ohne eine Lösung anzubieten. Vgl. Henze-Döhring 2009 (b).
1794 und 1798 werden in den Inventaren des mittlerweile »königlichen Opernhauses
zu Bayreuth« »26 Palm und Waldkulissen« erwähnt. Ein Jahr später allerdings
waren zwei Kulissen, bzw. ein Kulissenpaar verloren gegangen, genannt werden nun
nur noch summarisch »24 Waldkulissen«. Ball-Krückmann 2009, S. 257, Anm. 30.
Nach einer Rekonstruktion von Martin Hammitzsch waren im Markgräflichen
Opernhaus 6 Kulissengassen mit je 4 Freifahrten vorhanden. Zwischen den Gassen
lag die von den Sängern bespielbare Fläche, die rückwärts mit einem Mittel- und
einem Hintergrundprospekt abgeschlossen wurde (Hammitzsch 1906; vgl. hierzu
auch: Reus 1999, S. 27). Die Anordnung der Palmen auf der Zeichnung von Carlo
sieht allerdings keinen Raum für die Sänger vor. Um die Zeichnung mittels
Kulissen umzusetzen, müssten diese von beiden Seiten bis zur Mitte des
Bühnenraums geführt worden sein, was aber nicht der Fall war und den Sängern
auch keinen betretbaren Raum gelassen hätte. Deshalb kann man davon ausgehen,
dass Carlo hier das Aussehen des Hintergrundprospekts in einer detaillierten
Reinzeichnung wiedergegeben hat. Gerade die Darstellungen auf den
Hintergrundprospekten hatten für die Wirkung der Bühnenbilder eine enorme
Bedeutung. Erst hier konnten die aufwändigen Architekturinszenierungen der Galli
Bibiena malerisch umgesetzt werden. Hinzudenken muss man sich je 6 Kulissen auf
beiden Seiten, die weitere Palmen darstellten. Sie waren derart gestaffelt, dass
sie den Bühnenraum sukzessive nach hinten verengten und nahtlos an den
Hintergrundprospekt anschlossen. Damit wären es 12 Kulissen für das Bühnenbild
des Palmenwaldes und 12 Kulissen für den vorausgehenden und nochmals verwendeten
Eichenwald. Ob es sich bei den zwei übrigen Kulissen eventuell um die jeweiligen
Abschlussprospekte gehandelt hätte, kann heute nicht mehr geklärt werden. In den
Inventaren werden sie nicht als solche gesondert genannt.
Abb. 14 in: Ball-Krückmann 2009.
1728 verließ Carlo als siebenjähriges Kind sein Elternhaus in Wien, um nach
Bologna zu seinem Großvater Ferdinando überzusiedeln, wo er die nächsten 15
Jahre verbringen sollte. Crespi 1769, S. 94.
Vgl. Lenzi / Bentini 2000, Kat. Nr. 9a–l, bes. 9e; Abb., ebd.
Abgebildet in: Lenzi / Bentini 2000, Kat. Nr. 9e, Abb. S. 231.
1792 allerdings wurde sie abgeholzt. Heute ist sie durch eine Neupflanzung
(1986–1992) ersetzt, die mittlerweile schon einen recht guten Eindruck davon
gibt, wie man sich ihr Aussehen im 18. Jahrhundert vorstellen darf. Ein Abriss
der Chronologie und aktuelle Fotographien in: Förderkreis 2018.
Morgan Library & Museum, Thaw Collection; Drawing: http://www.themorgan.org/drawings/item/246982 [letzter Zugriff
am 25.2.2018].
Entgegen meiner früheren Ausführungen (Krückmann 1998, Kat. Nr. 299;
Ball-Krückmann 2009) dürfte das Palmenzimmer erst nach 1754 entstanden sein,
wahrscheinlich ab 1757 im Zuge des weiteren Ausbaus des Neuen Schlosses. Jahn
1990, S. 152–153.
Libretto in der UB Erlangen (R.L.63a), S. 11.
Ebd.
Feder in Braun und Schwarz, laviert und aquarelliert, 342 × 480 mm; The State
Hermitage Museum, St. Petersburg; Ball-Krückmann 2009, S. 259–260.
Ebd., S. 49.
Krückmann 2011, S. 132.
Zitiert nach Krückmann 1998, Kat. Nr. 259.
Reviewing Editor
Margret Scharrer
Copyright & License
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This book is published under the Creative Commons License 4.0 (CC BY-SA 4.0).
Editor
Margret Scharrer
Editor
Heiko Laß
Editor
Matthias Müller
Section Author
Babette Ball-Krückmann
Babette Ball-Krückmann studierte Kunstgeschichte, Neuere Geschichte und Germanistik in München und Berlin. Promotion über Joachim Patenir und den Beginn der Landschaftsmalerei. Im Rahmen eines Volontariats bei der Bayerischen Schlösserverwaltung, Mitarbeit bei der Ausstellung Das Vergessene Paradies – Galli Bibiena und der Musenhof der Wilhelmine von Bayreuth (Bayreuth, Neues Schloss, 1998), hierbei insbesondere Betreuung der Sektion über die Familie Galli Bibiena. Seitdem zahlreiche Veröffentlichungen zu unterschiedlichen Aspekten der Bühnenbildnerei im 18. Jahrhundert mit Schwerpunkt auf den Arbeiten der Familie der Galli Bibiena. Freischaffend tätig im Bereich der Kunstvermittlung.