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Musiktheater im höfischen Raum des frühneuzeitlichen Europa. Hof – Oper – Architektur
27 Feb 2020
Giovanni Angelini Bontempis Il Paride (Dresden 1662) im Spannungsfeld zwischen höfischer Repräsentation und künstlerischer Ambition
Giovanni Bontempis Il Paride genießt in der Opernhistoriographie gewisse Prominenz, v. a. weil die Uraufführung anlässlich der Hochzeit der sächsischen Kurprinzessin ­Erdmuthe Sophie und des Markgrafen Christian Ernst von Brandenburg Bayreuth im November 1662 den Beginn der langen Tradition der italienischen Oper am Dresdner Hof markiert und zugleich die erste italienischsprachige Musiktheateraufführung an einem protestantischen Hof überhaupt darstellt.1 Ausgehend von der Dresdner Dafne von Heinrich Schütz und Martin Opitz im Jahre 1627 hatte sich in den protestantischen Reichsteilen eine rein deutschsprachige Operntradition etabliert. Die Entscheidung für eine italienische Oper in Dresden bedeutete also einen Bruch, der im Zusammenhang mit dem Bestreben des sächsischen Hofes zu sehen ist, seine Repräsentationskultur nach Wiener Vorbildern auszurichten, wo die italienische Oper dominierte. Bontempi war 1650 als Kastrat nach seiner Ausbildung in Rom und erster Anstellung in Venedig nach Dresden gelangt und, gefördert von Heinrich Schütz, bald zum Kapellmeister ernannt worden. Diesem widmete er den 1660 im Druck erschienenen Traktat Nova quattuor vocibus componendi methodus, worin sich einerseits sein gutes Einvernehmen mit dem hoch angesehenen lutherischen Amtskollegen auch über die Konfessionsgrenzen hinweg niederschlägt. Darüber hinaus jedoch demonstriert die Schrift den für italienische Sänger- und Komponistenvirtuosen eher ungewöhnlichen Versuch, sich als umfassend gebildeter musicus zu inszenieren, der neben dem musikalischen Handwerk auch die Theorie beherrscht. Am Dresdner Hof avancierte er nachfolgend zu einer Art uomo universale: Neben der Komposition fungierte er als Bühnenarchitekt und Maschinenmeister, befasste sich mit der Konstruktion von Uhren sowie der Mosaikkunst und betätigte sich als Historiograph. Nach 1680 führte er in Perugia ein Gelehrtendasein, das 1695 in der Publikation der Historia musica sowie der nachfolgenden Aufnahme in die Accademia degli Insensati gipfelte.
Auch Il Paride stellt ein ebenso ambitioniertes wie ungewöhnliches Unternehmen dar. Bontempi trat hier erstmals als Komponist hervor und verfasste zugleich auch das Libretto selbst. Singulär ist überdies, dass die Partitur einige Jahre später in einem ­undatierten, vollständigen Druck erschien – seit dem Ende der 1630er Jahre bis weit ins 18. Jahrhundert hinein zirkulierten italienische Opern nahezu ausschließlich in Abschriften.2 Eine weitere Auffälligkeit besteht schließlich darin, dass sich Bontempi gemäß der Vorrede nicht an den antiken Gattungen orientiert, sondern vielmehr ein ­»Erotopaegnion Musicum« zu schaffen beabsichtigte, ein »musikalisches Liebesspiel«.3 Zwar wurden diese Aspekte von der Forschung durchaus konstatiert, allerdings blieben Versuche einer Einordnung und Bewertung der Anlage und Überlieferung des Werkes weitgehend aus, wie überhaupt die Person Bontempis nur beiläufige Würdigung erfuhr.4 Das Anliegen der nachfolgenden Ausführungen ist es daher, die an die Aufführung und ihre mediale Verbreitung geknüpften Intentionen Bontempis und des Dresdner Hofes mit Hinblick auf den Entstehungsanlass sowie die beteiligten Akteure schärfer zu profilieren. Ein besonderes Augenmerk soll dabei auch der Rolle des Paride im europäischen Kontext gewidmet werden, denn mit Francesco Cavallis Ercole amante und Antonio Cestis Il pomo d’oro entstanden zeitnah in Paris und Wien zwei weitere höchst ambitionierte, für die weitere Entwicklung der italienischen Oper richtungsweisende Hochzeitsopern, auf die, so die These, auch der Dresdner Paride in verschiedener Hinsicht rekurriert. Hierzu soll zunächst die Anlage der Oper in den Kontext der Dresdner Feierlichkeiten eingeordnet werden, bevor dann die überlieferten Librettodrucke und der Partiturdruck in ihren Bezügen zu Paris und Wien in den Blick rücken. Dabei soll gezeigt werden, dass sich Il Paride gleichermaßen als Beitrag zur Positionierung des Dresdner Hofes innerhalb der europäischen Festkultur wie als Ausweis von Bontempis künstlerischen Ambitionen werten lässt.
Zur Anlage der Oper im Kontext der Dresdner Feierlichkeiten
Die fünf Akte schildern die Geschichte des Parisurteils und seiner Folgen. Der Handlungsverlauf beinhaltet die bekannten Stationen des Streits der Göttinnen um den Apfel, Jupiters Bestimmung des als Schäfer in einer Liebesbeziehung mit der Nymphe Enone am Berg Ida lebenden trojanischen Königssohns Paris zum Richter, der Entführung der Helena und beider Eintreffen in Troja und endet mit dem Jubel über die glückliche Verbindung. Die Aufführung war Teil der umfangreichen Hochzeitsfeierlichkeiten, die von Uta Deppe präzise rekonstruiert und in ihren allegorischen Bezügen interpretiert wurden.5 An die Aufführung am 2. November schlossen sich gesprochene Schauspiele an, die den Trojanischen Krieg und den Tod Hektors zum Gegenstand hatten. Ergänzt wurden sie um ein Turnierfest der Griechen und Trojaner, an dem der Kurfürst als Agamemnon, Herzog Friedrich Wilhelm II. von Sachsen-Altenburg als Priamos sowie der Bräutigam als Amazonenkönigin Penthesilea teilnahmen. Dieser Komplex bildete den Höhepunkt der Festlichkeiten und rekurrierte thematisch auf die Dresdner Fürstenhochzeit von 1650, bei der bereits die Geschichte von Paris und Helena in einem Gesangsballett thematisiert worden war.
Ungeachtet dieses Rekurses sowie der generellen Beliebtheit des Paris-Sujets für frühneuzeitliche Hochzeitsanlässe stellte seine Verarbeitung als italienische Oper nicht nur für Dresden jedoch ein Novum dar, und wie erwähnt betonte Bontempi im Vorwort die Neuartigkeit seines Opernkonzepts. Trotzdem lehnte er sich stark an etablierte Traditionen der venezianischen Oper an, die er von der Zeit seiner Anstellung am Markusdom in den 1640er Jahren aus erster Hand kannte.6 So ist die Haupthandlung von zahlreichen Episoden durchsetzt, die unterschiedlichste Ausprägungen der Liebe unter Schäfern, Höflingen und einfachem Volk vorführen und bukolische, burleske, aber auch drastische Züge wie etwa in der versuchten Vergewaltigung der Enone durch zwei Jäger tragen. Bontempi nutzt diese Szenen, um musikalisch-dramaturgische Situationen herbeizuführen, die auf bekannte Werke rekurrieren: Die Trunkenheit Ergauros in der 3. Szene des 5. Aktes etwa gemahnt deutlich an die Figur des Iro in Monteverdis Ritorno d’Ulisse in patria, der Stotterer Ancrocco in Szene 6 des 4. Aktes hat in dem Buckligen Demo aus Cavallis Il Giasone sein Vorbild, und die große Klage der Enone über den Verlust des Paris im 5. Akt greift das Standardmodell des Opernlamentos auf, das in kaum einer venezianischen Oper der Zeit fehlt.
Diese dezidierte Anknüpfung an die venezianische Operntradition kann sicherlich als Versuch gewertet werden, den Dresdner Erstling auf Augenhöhe mit den Opern Cavallis und Cestis anzusiedeln, die nicht nur in Italien, sondern auch in Paris und an den habsburgischen Residenzen den Standard der Zeit markierten. Zugleich allerdings lässt sie sich als Reverenz an den Bräutigam verstehen, der erst kurz vor seiner Verlobung mit der Kurprinzessin am 29. Dezember 1661 in Dresden von seiner Kavalierstour zurückgekehrt war, die ihn neben Frankreich auch nach Italien geführt und mit der aktuellen Opernpraxis in Berührung gebracht hatte: Der 1669 im Druck erschienenen Reise­beschreibung Hochfürstlicher Brandenburgischer Ulysses von Sigmund von Birken ist zu entnehmen, dass Christian Ernst insbesondere während des Karnevals 1661 in Rom mehreren »musikalischen Komödien« beigewohnt hatte,7 im Palazzo Colonna vermutlich auch der römischen Erstaufführung von Cestis Orontea, einer der erfolgreichsten Opern dieser Zeit.8 Im Unterschied zu den kursächsischen Hofangehörigen kannte er also die aktuellen Trends aus eigener Anschauung und war somit in der Lage, die Komposition des italienischen Kapellmeisters zu würdigen.
Umso mehr muss allerdings erstaunen, dass Bontempi sich in seiner Vorrede gerade nicht in diese Tradition stellt, und in der Tat fällt an der Anlage des Paride auf, dass die erwähnten Episoden die Haupthandlung in einem Maße überlagern, wie es für die von Cavalli und Cesti vertonten Libretti Giacinto Andrea Cicogninis, Francesco Butis u. a. untypisch ist. Offensichtlich ging es Bontempi primär um die Darstellung vielfältiger Spielarten der Liebesthematik – passend zum Anlass ein »musikalisches Liebesspiel« eben, das sich als teils humorvoller, teils moralisierender Spiegel für Brautpaar und Hofgesellschaft verstehen lässt. Die Parallelsetzung von Paris und Helena mit den Brautleuten wird etwa in Szene 8 des 4. Akts deutlich, in der sich ein deutlicher Rekurs auf das Beilager-Zeremoniell erkennen lässt,9 das sich an die Trauung angeschlossen hatte: »Helena überwunden, von so mächtigem Anfalle, wirft sich auff das Bette, und macht aus ihren Armen eine Liebes-Kette, um des Paris Hals; Und indem sie einander küssen, macht Amor die Fürhänge zu, und geht aus den Gemächern.«10
Passend zu der Eigenständigkeit und Neuartigkeit erscheint es dabei, dass Bontempi hinsichtlich dieser Episoden offenbar keinerlei Vorlagen aufgreift. Eine bemerkenswerte Ausnahme betrifft allerdings die 6. Szene des 1. Akts, in der ein prominentes literarisches Vorbild anklingt: Jupiters Benennung des Schiedsrichters, die erste Erwähnung des Paris in der Oper überhaupt, kleidet er in die Worte Clizios aus dem 2. Gesang von Giambattista Marinos 1623 veröffentlichtem Epos Adone, die im Zusammenhang mit der Schilderung des Parisurteils fallen. Dort heißt es in der 60. und 61. Ottava:
Pastor vive tra’ boschi, in Frigia nato,
ma sol nel nome e ne l’ufficio è tale,
ché, s’ancor non tenesse invido fato
chiuso tra roze spoglie il gran natale,
al mondo tutto il suo sublime stato
conto fora e ’l legnaggio alto e reale.
Di Priamo è figlio, imperador troiano,
di Ganimede mio maggior germano.
Paride ha nome, e non è forse indegno
ch’egli tra voi la question decida,
poich’ha l’integrità pari a l’ingegno
da poter acquetar tanta disfida.
Sconosciuto si sta nel patrio regno
dove il Gargaro altier s’estolle in Ida.
Itene dunque là, colui che porta
l’ambasciate del ciel vi sarà scorta.11
[Hervorhebung durch den Verf.]
Bei Bontempi werden die beiden zentralen Verse paraphrasierend zusammengezogen:
Dove il Gargaro altier s’estolle in Ida,
Vive Pastor tra’ boschi in Frigia nato.12
Das an zentraler Stelle eingestreute Zitat inszeniert dabei nicht nur den literarischen Anspruch Bontempis und appelliert an die Belesenheit des Publikums, sondern lässt sich zugleich als sprachliche Überhöhung der Titelfigur verstehen, die im Kontext der Festaufführung mit dem Bräutigam assoziiert werden konnte. Die Singularität dieser literarischen Anspielung bildet damit eine subtile Reverenz an Christian Ernst und eine Zurschaustellung von Bontempis literarischem Talent, das ansonsten ohne Anleihen an Vorbilder auskommt.
Bislang nicht in Betracht gezogen wurde ferner auch die Möglichkeit, dass Bontempis Paride komplementär zu einer weiteren Oper für die Hochzeit angelegt war, dem Ende November oder Anfang Dezember 1662 in Bayreuth anlässlich der »Heimführung« der Braut aufgeführten Singspiel Sophia, von dem sich lediglich der Text von Sigmund von Birken erhalten hat.13 Ähnlich wie Paride in Dresden stellte die Sophia des prominenten Barockdichters und Mitglieds der Fruchtbringenden Gesellschaft für Bayreuth ein musiktheatrales Novum dar, hier sogar die erste Opernaufführung überhaupt. Anders als sein Ballett der Natur für denselben Anlass offenbar ohne Auftrag des Hofes verfasst, verstand Birken das Singspiel Sophia als programmatischen Beitrag zur Gattung, da es »ein Beispiel vor Augen [lege], wie man sonder mit Heidnischen Götzen sich zu schleppen, welches einem Christlichen Schauplatz sehr übel anstehet, dergleichen Singspiele anordnen könne«.14 Der gänzliche Verzicht auf mythologisches Personal findet sich in Bontempis Paride zwar nicht, da das Sujet dies unmöglich macht, allerdings unterscheidet sich sein Libretto von den meisten anderen Stoffbearbeitungen des 17. Jahrhunderts dadurch, dass nach dem Urteilsspruch keine Gottheiten mehr auftreten – ganz anders etwa als in Cestis Wiener Pomo d’oro, dessen zahlreiche Nebenhandlungen fast ausschließlich von Göttern bestritten werden.15 Als kalkulierte Verschränkung lässt sich ferner die reziproke Wahl der titelgebenden Figuren verstehen: Der in Bayreuth eindeutig auf die sächsische Braut bezogenen Sophia stünde demnach in Dresden Paride gegenüber, der sich mit dem Bayreuther Markgrafen Christian Ernst identifizieren lässt. Offenkundig also bot die Fürstenhochzeit Anlass für zwei musiktheatrale Experimente in Dresden und Bayreuth, wobei die Konkurrenz, in die sich Bontempi damit zu Birken begab, zugleich den erheblichen poetologischen Rechtfertigungsaufwand erklärt, den der Italiener in seiner Vorrede betrieb.
Die Librettodrucke
Zu Il Paride wurde ein zweisprachiges Libretto im Quartformat hergestellt, wie es später häufig begegnet. Zum Zeitpunkt der Aufführung allerdings waren Übersetzungen italienischer Opern ungewöhnlich, so dass die Vermutung naheliegt, man habe sich in Dresden an den Librettodruck zu Cavallis Hochzeitsoper für Ludwig XIV. Ercole amante angelehnt, die im Februar 1662 in Paris uraufgeführt worden war: Dieser Druck orientierte sich auffallend an der Praxis der öffentlichen Theater in Italien, indem er sich auf das handliche Quartformat beschränkt, auf jegliche Widmung verzichtet und den Anlassbezug lediglich auf der Titelseite herstellt.16 Neue Wege wurden jedoch mit dem Abdruck einer vollständigen französischen Übersetzung beschritten, wie sie im Vorfeld zwar bereits erprobt, allerdings noch nicht in dieser Konsequenz realisiert worden war.17 Die Bemühung um den Sprachtransfer war noch von Kardinal Mazarin angeregt worden, um dem französischen Publikum den Mitvollzug zu ermöglichen und damit die Akzeptanz der am Hof umstrittenen italienischen Oper zu erhöhen.
Zum Dresdner Paride allerdings sind zusätzlich auch ein rein italienischsprachiges Libretto entsprechend dem generellen Usus18 sowie einige zweisprachige Exemplare im Folio-Format überliefert,19 die sich möglicherweise an der in Wien bereits etablierten Praxis großformatiger Libretti orientieren. Zwar sind deren Bestimmung und Verbreitungswege im Einzelnen nicht zu klären, jedoch ist anzunehmen, dass die verschiedenen Exemplare abhängig von Rang und Herkunft der Adressaten ausgegeben bzw. verschickt wurden. Die Einführung der italienischen Oper in Dresden wurde demnach planvoll propagiert und durch die variablen Präsentationsformen des ­Librettos unterstützt. Auffällig ist ferner, dass neben einer Widmung an das Brautpaar auch die bereits erwähnte Vorrede Bontempis an den Leser enthalten ist. Letztere stellt ein Novum dar und markiert damit zugleich eine ästhetische Anspruchshaltung, wie sie bereits in den Widmungsreden zu den ersten, etwa 60 Jahre zuvor entstandenen Florentiner Partiturdrucken festzustellen ist.20 Rückgebunden wird sie freilich explizit an den fürstlichen Auftrag: »E se i sovrani comandi de’ Serenissimi Padroni, non mi ­havessero mosso ­l’Ingegno, sarebbe rimaso in questa opportunità, si come in molt’altre, nella ­contemplation de’ suoi soliti silentii.«21 Die floskelhafte Topik dieser Bemerkung rechtfertigt nicht nur die im Rahmen einer Festoper ungewöhnliche Exposition autorschaftlichen Selbstbewusstseins, sondern reklamiert zugleich den Kunstcharakter des »Erotopaegnion Musicum« Il Paride und eine Überlegenheit gegenüber anderen Festopern traditionellen Zuschnitts, die explizit in den Dienst einer Überhöhung des Anlasses gestellt wird und damit auch eine Überbietung des Pariser Ercole amante impliziert.
Der Partiturdruck
Einen Sonderfall anderer Art stellt der Partiturdruck dar, der einige Zeit nach der Aufführung erschien. Auch er stellt prinzipiell kein Novum dar und knüpft an die Praxis der frühen Opernpartiturdrucke an, die in den 1660er Jahren jedoch längst obsolet war. In der Vorrede an den Leser begründet Bontempi die Drucklegung mit der starken Nachfrage nach Partiturabschriften, die ihn seit der Aufführung 1662 erreicht habe. Überdeutlich ist jedoch sein Bestreben, sich mit dem Druck in die Ahnenreihe der Pioniere der Gattung einzuschreiben. Neben den weitschweifigen opernästhetischen Ausführungen ist es insbesondere die Aussage, die Oper auf dem »Teatro del Mondo« präsentieren zu wollen,22 die das Vorhaben in Beziehung zu Monteverdis L’Orfeo setzt, der den Partiturdruck mit einem Erscheinen der Oper auf dem »gran Teatro dell’universo« gleichsetzte.23 Der ursprüngliche Aufführungsanlass wird dagegen mit keinem Wort erwähnt.
Dennoch ließ sich der Druck zur Propagierung des Opernstandortes Dresden und der Erinnerung an den Entstehungsanlass einsetzen. Hierauf deutet der ungewöhnliche Umstand, dass keine Angaben zu Drucker und Druckjahr enthalten sind. Einem datierten Besitzvermerk im Wolfenbütteler Exemplar ist das Jahr 1671 als Terminus ante quem zu entnehmen,24 und ferner lässt das Druckbild vermuten, dass die Partitur ebenso wie das Libretto von Melchior Bergen gedruckt wurde. Offenbar sollte eine unmittelbare Verbindung zu dem Aufführungsanlass suggeriert und damit die Widmung des Librettos an das Brautpaar implizit übernommen werden. Die Überlieferungsstreuung lässt darauf schließen, dass die Partitur systematisch verschickt wurde. Es haben sich mehrere Exemplare erhalten, die offenbar mit Bedacht ­konfektioniert worden sind: Dem Wiener und dem Pariser Exemplar sind die großformatigen, zweisprachigen Libretti der Festaufführung beigebunden;25 im ­Bologneser Exemplar finden sich überdies noch vier weitere Libretti zu Dresdner Festveranstaltungen der folgenden Jahre.26 Der Einband des Wiener Exemplars lässt erkennen, dass die Partitur im Jahre 1673 in die kaiserliche Bibliothek gelangte, folglich wurde sie aller Wahrscheinlichkeit nach dem Wiener Hof oder sogar dem Kaiser selbst zum Geschenk gemacht.27
Damit lässt sich der zeitlich nachgelagerte Druck auch als Reaktion auf den enormen publizistischen Aufwand werten, der im Zusammenhang mit der Wiener Hochzeitsoper von 1668, Cestis Il pomo d’oro, betrieben worden war. Hier wurde neben klein- und großformatigen Libretti auch eine 25-teilige Stichserie hergestellt, die neben einem Widmungskupfer und Bühnenbildansichten als Novum auch eine von Frans Geffels gestochene Darstellung des gefüllten Theaterraumes während der Darbietung des Prologs umfasste. In seiner Widmung an den Kaiser macht Geffels die Intention dieses neuartigen Darstellungsmodus explizit: »Ho posto in dissegno una veduta del fianco del suddetto Teatro accio quelli ancora che non l’havranno veduto possono godere delle magnificenze della Sacra Cesare Reale Maesta Vostra.«28 Hier wird eine über den Anlass hinausweisende Ebene beschritten, die den Kasualcharakter der Opernaufführung überwindet und ihr das Potential eines dauerhaften Ausweises der Größe Leopolds I. zuschreibt. Diese artikuliert sich in allen Bestandteilen der Aufführung, und folglich werden die Theater- und Bühnenarchitektur, die Sänger, Instrumentalisten, das Publikum im Rücken der kaiserlichen Familie und sogar die Wachleute ins Bild gesetzt. Was freilich fehlt, ist die akustische Komponente, die nur imaginiert werden kann. Bontempis Partiturdruck ließe sich vor diesem Hintergrund als Überbietungsversuch deuten, der unter Verzicht auf eine aussichtslose aemulatio der Wiener Stichserie die musikalische Faktur der Dresdner Hochzeitsoper in den Vordergrund rückt. Durch eine solche Strategie wird dem Hofkünstler Bontempi zugleich ein Entfaltungsraum eröffnet, der unmittelbar an Schütz anknüpft, ohne mit diesem im selben Medium zu konkurrieren: Dieser war bekanntlich in Portraits und Musikdrucken als Dresdner Hofkomponist und damit künstlerischer Repräsentant des Fürstenhauses inszeniert worden.29 – Im Falle Cavallis in Paris und Cestis in Wien war derlei stets unterblieben.
Gerade in dieser Hinsicht könnte der Dresdner Paride-Druck Vorbildfunktion erlangt haben. Auffällig ist nämlich die zeitliche Koinzidenz zwischen der Verschickung der Partitur nach Paris und dem Jean-Baptiste Lully 1672 verliehenen Druckprivileg für seine Tragédies en musique.30 Beginnend mit Isis im Jahre 1677 brachte dieser dann bekanntlich sämtliche seiner Opern im Druck heraus. Der scheinbar anachronistische Dresdner Paride-Druck wurde auf diese Weise, so darf vermutet werden, zum Vorbild für die Kanonisierung der Tragédie en musique und Lullys Selbstkanonisierung als Hofkünstler.
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass in Bontempis Il Paride sowohl hinsichtlich der Anlage als auch der medialen Propagierung neue Wege beschritten wurden, die die Artikulation künstlerischer Meisterschaft mit der konkurrierenden Positionierung des Dresdner Hofes auf dem Feld der italienischen Oper als zentralem Bestandteil der höfischen Festkultur verbanden. Unter Anknüpfung an die etablierten Standards der venezianischen Oper und ihren Einsatz innerhalb höfischer Festereignisse wurde zugleich von den Vorbildern abgewichen, indem gängige Formen der Herrscherpanegyrik unterblieben, gattungstypische Muster in ein neuartiges Gebilde überführt und im Partiturdruck an ein lang obsolet gewordenes Medium der Operndivulgation angeknüpft wurde. Diese Vorgehensweise war einerseits genau auf den Anlass, die beteiligten Personen und das höfische Repräsentationsbedürfnis abgestimmt, andererseits erlaubte sie dem vielseitig begabten Hofkapellmeister Bontempi eine sehr weitgehende Profilierung als Hofkünstler, der zugleich als Komponist und Librettist auftrat.31 Bezogen auf Bontempis Paride kann das Spannungsfeld zwischen höfischer Repräsentation und künstlerischer Ambition also als ausgesprochen konstruktiv bezeichnet werden.
Literatur
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Bontempi 1662: Bontempi, Giovanni Andrea: Il Paride, Opera Musicale, Dresden 1662.
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Brumana / Timms 2013: Brumana, Biancamaria; Timms, Colin: Art. Bontempi, ­Giovanni Andrea, in: Grove Music Online [Updated and revised 25.7.2013; letzter Zugriff am 22.12.2016].
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Pietschmann 2016: Pietschmann, Klaus: Die Oper als »kleine Republic« und ihre mediale Propagierung. Hochzeitsopern der 1660er Jahre im Vergleich: Paris, Dresden, Wien, in: Erben, Dietrich; Tauber, Christian (Hg.): Politikstile und die Sicht­barkeit des Politischen in der Frühen Neuzeit (= Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München, Bd. 39), Passau 2016, S. 157–176.
Pietschmann 2018: Pietschmann, Klaus: Giovanni Andrea Angelini Bontempi als ungewöhnlicher Akteur im musikalischen Wissenstransfer zwischen Italien und dem Reich nach dem Dreißigjährigen Krieg, in: Brevaglieri, Sabina; ­Schnettger, Matthias (Hg.): Transferprozesse zwischen dem Alten Reich und Italien im 17. Jahrhundert. Wissenskonfigurationen – Akteure – Netzwerke (= Mainzer Historische Kulturwissenschaften, Bd. 29), Bielefeld 2018, S. 61–90.
Russo 2013: Russo, Emilio (Hg.): Marino, Giovan Battista: Adone, Mailand 2013.
Schneider 2004: Schneider, Herbert: Art. Jean-Baptiste Lully, in: Finscher, Herbert (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Ausgabe, Personenteil, Bd. 11, Kassel u. a. 2004, Sp. 578–605
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Sonneck 1921: Sonneck, Oscar: Miscellaneous Studies in the History of Music, New York 1921.
Steude 1985/86: Steude, Wolfram: Zum gegenwärtigen Stand der Schütz-Ikonographie, in: Schütz-Jahrbuch 7/8/1985/86, S. 50–61.
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Giovanni Angelini Bontempis Il Paride (Dresden 1662) im Spannungsfeld zwischen höfischer Repräsentation und künstlerischer Ambition
Klaus Pietschmann
Zur Anlage der Oper im Kontext der Dresdner Feierlichkeiten
Die Librettodrucke
Der Partiturdruck
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